Ein verführerischer Schuft
Modistin.
Hungerfords Informationen nach beherbergte Bruton Street immer noch die angesagtesten Modesalons der Stadt. Tony begann am einen Ende der Straße und betrat Madame Francescas Salon, verlangte nach Madame selbst.
Madame war zwar entzückt, ihn zu sehen, konnte ihm aber bedauerlicherweise - und sie bedauerte das aufrichtig - nicht helfen.
Diese Antwort erhielt er wieder und wieder entlang der Straße. Als er schließlich zu Madame Franchots Etablissement am anderen Ende der Bruton Street gelangt war, hatte sich Tonys Geduld aufgebraucht. Nachdem er Madames ernste Erkundigungen zum Gesundheitszustand seiner Mutter fünfzehn Minuten lang über sich hatte ergehen lassen, entfloh er, kein bisschen weiser als zuvor.
Er ging langsam die Stufen hinab und fragte sich, wo sonst, zum Teufel, jemand wie »seine« Dame wohl ihre Kleider beziehen konnte. An der Eingangstür des Modesalons angekommen, öffnete er sie.
Und sah sie in Lebensgröße auf der anderen Straßenseite gehen. Also kam sie doch zur Bruton Street.
Sie schritt forsch aus, völlig in die Unterhaltung mit einer echten Schönheit versunken, einer jüngeren Dame, deren Reize selbst für Tonys abgestumpftes Auge unvergleichlich lieblich waren.
Er wartete in der Tür, bis sie weitergegangen waren, dann trat er auf den Bürgersteig und schloss die Tür hinter sich, überquerte die Straße und folgte dem Paar, wobei er sich etwa zwanzig Schritt hinter ihnen hielt. Nicht so dicht, dass die Dame seine Gegenwart spürte oder ihn sehen würde, sollte sie sich einmal umdrehen, aber auch nicht so weit, dass er Gefahr lief, sie aus den Augen zu verlieren, falls sie eines der zahllosen Geschäfte entlang der Straße betreten sollten.
Zu seiner gelinden Überraschung taten die beiden das jedoch nicht. Sie gingen weiter, völlig in ihr Gespräch vertieft; sie erreichten Berkeley Square.
Er folgte ihnen weiter.
»Es gab nichts, was du hättest tun können - er war ja schon tot, und zudem hast du nichts gesehen.« Adriana zählte zum wiederholten Male die Fakten auf.
»Es wäre nichts dadurch gewonnen gewesen, wenn du dich weiter in die Sache hättest hineinziehen lassen.«
»Genau«, pflichtete ihr Alicia bei. Sie wünschte nur, sie könnte die nagende Sorge loswerden, dass sie in Lady Amerys Salon hätte warten sollen, wenigstens bis der Gentleman zurückkehrte. Er hatte bemerkenswert vernünftig und besonnen gehandelt, und sie hätte ihm danken müssen. Dann war da noch die Sorge, dass er am Ende in Schwierigkeiten geraten war, weil er die Leiche gefunden hatte - sie hatte keine Ahnung, wie der korrekte Ablauf bei solchen Vorfällen war, falls es so etwas gab. Doch er war ihr so fähig und selbstsicher erschienen, dass sie sich zweifellos den Kopf über Nichtigkeiten zerbrach.
Sie war immer noch schreckhaft und nervös, was kaum eine Überraschung war, aber sie konnte noch nicht einmal zulassen, dass ein Mord sie von ihrem Plan ablenkte. Zu viel hing von dessen Gelingen ab.
»Ich hoffe nur, Pennecuik kann uns die violette Seide beschaffen - es ist der perfekte Farbton, um unter den anderen Pastelltönen aufzufallen.«
Adriana schaute sie an.
»Ich denke, das Design mit dem geschnürten Oberteil würde dir gut stehen - weißt du, was ich meine?«
Das tat Alicia. Adriana versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen, damit sie sich mit etwas anderem beschäftigte als den Ereignissen von voriger Nacht. Sie kamen gerade von Mr. Pennecuiks Warenhaus, das sich hinter den Modesalons am anderen Ende der Bruton Street befand. Mr. Pennecuik belieferte die Modistinnen mit den besten Stoffen; und inzwischen versorgte er auch Mrs. Carrington aus der Waverton Street mit Stoffen für die eleganten Kreationen, mit denen sie und ihre schöne Schwester Miss Pevensey die Gesellschaften der besten Kreise zierten.
Man hatte eine sehr angenehme Übereinkunft getroffen. Mr. Pennecuik lieferte seine exklusiven Stoffe zu einem überaus günstigen Preis, während sie im Gegenzug allen erzählten, die sich danach erkundigten - was Matronen in Scharen tun würden und dann taten, als sie Adriana sahen -, dass man auf dem besten Material bestehen sollte, wenn man von seiner Modistin das schönste Kleid erhalten wollte; und die Stoffe von Mr. Pennecuik waren fraglos die besten.
Da sie keine Modistin hatte, ging man allgemein davon aus, dass sie eine private Näherin beschäftigte. Die Wahrheit hingegen sah anders aus: Adriana und sie nähten, unterstützt von ihrer alten Amme
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