Ein verhängnisvolles Versprechen
Fernsehen mit zitternder Unterlippe suchen ließ.
Vielleicht hatte Edna sich geirrt. Vielleicht war sie es doch nicht gewesen.
Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen.
»Schnell«, sagte Edna zu Stanley.
»Was ist denn, wo willst du hin?«
Für eine Antwort war keine Zeit. Das Mädchen war vermutlich schon an der nächsten Ecke. Stanley würde schon hinterherkommen. Stanley Rickenback, Gynäkologe und Spezialist für Geburtshilfe, war Ednas zweiter Ehemann. Der erste war ein echter Tausendsassa gewesen, ein kühner, zu attraktiver und zu leidenschaftlicher Mann und außerdem, tja, ein absolutes Arschloch. Wahrscheinlich war ihr Urteil nicht ganz fair, aber was sollte es. Ehemann Nummer eins hatte der neckischen Vorstellung, eine Ärztin zu heiraten – das war vor vierzig Jahren –,
einfach nicht widerstehen können. Das Leben mit dieser Ärztin hatte ihn dann allerdings heillos überfordert. Er war davon ausgegangen, dass Edna diesen Ärztinnen-Spleen spätestens dann überwinden würde, wenn sie Kinder hatten. Das hatte sie nicht getan – ganz im Gegenteil. In Wahrheit – eine Wahrheit, die ihren Kindern nicht verborgen geblieben war – liebte Edna ihren Beruf sehr viel mehr als die Mutterrolle.
Sie hastete weiter. Die Gehsteige waren voll. Sie trat auf die Straße und ging schnell am Bordstein entlang. Stanley versuchte, nicht den Anschluss zu verlieren. »Edna?«
»Komm einfach mit.«
Er holte sie ein. »Was hast du vor?«
Ednas Blick suchte nach roten Haaren.
Da. Links vor ihr.
Sie musste sich die Frau näher ansehen. Edna rannte los. Wenn eine schick gekleidete Mittsechzigerin auf offener Straße rennt, erregt das an den meisten Orten Aufsehen, doch sie waren hier mitten in Manhattan. Man würdigte sie kaum eines zweiten Blickes.
Sie lief an der Frau vorbei, duckte sich dabei hinter größere Passanten, um nicht aufzufallen, und als sie weit genug weg war, drehte Edna sich um. Die vermeintliche Katie kam direkt auf sie zu. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, und dann war Edna sicher.
Sie war es.
Katie Rochester wurde von einem dunkelhaarigen, etwa dreißig Jahre alten Mann begleitet. Sie gingen Hand in Hand. Sie sah nicht besorgt oder gestresst aus. Im Gegenteil, sie wirkte ziemlich zufrieden – zumindest, bis ihre Blicke sich trafen. Das hatte natürlich nichts zu bedeuten. Elizabeth Smart, das junge Mädchen, das drüben in Utah entführt worden war, war zeitweilig zusammen mit ihrem Kidnapper in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen und hatte nicht ein einziges Mal signalisiert, dass sie Hilfe brauchte. Vielleicht verhielt es sich hier ähnlich.
Aber Edna glaubte das nicht.
Die rothaarige vermeintliche Katie flüsterte dem dunkelhaarigen Mann etwas zu. Die beiden beschleunigten ihren Schritt. Edna sah, wie sie nach rechts abbogen und im U-Bahn-Eingang verschwanden. Unten fuhren die Linien C und E. Stanley holte Edna ein. Er wollte etwas sagen, schwieg aber, als er ihr Gesicht sah.
»Komm mit«, sagte sie.
Sie eilten zum Eingang und die Treppe hinunter. Die vermisste Frau und der dunkelhaarige Mann hatten das Drehkreuz schon passiert. Edna wollte ihnen folgen.
»Mist.«
»Was ist?«
»Ich hab keine MetroCard.«
»Ich schon«, sagte Stanley.
»Gib her. Schnell.«
Er zog die Karte aus dem Portemonnaie und reichte sie ihr. Sie führte sie über den Scanner, ging durchs Drehkreuz und gab sie ihm zurück. Sie wartete nicht auf ihn. Die beiden waren die rechte Treppe hinuntergegangen. Sie folgte ihnen. Sie hörte das Rumpeln eines ankommenden Zuges und rannte los.
Der Zug hielt quietschend an. Die Türen öffneten sich. Ednas Herz raste. Sie sah nach links und rechts und suchte die roten Haare.
Nichts.
Wo war die Frau?
»Edna?« Stanley kam auf sie zu.
Sie sagte nichts. Katie Rochester war nicht zu sehen. Und wenn sie dagewesen wäre, was dann? Was hätte Edna dann tun sollen? Mit ihr in die U-Bahn steigen und sie verfolgen? Wohin? Und dann? Katies Wohnung ausfindig machen und dann die Polizei informieren?
Jemand klopfte ihr auf die Schulter.
Edna drehte sich um. Es war das vermisste Mädchen.
Noch lange danach fragte Edna sich, was sie im Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Einen flehenden Blick? Verzweiflung? Gelassenheit? Sogar Freude? Entschlossenheit? Alles zusammen?
Die beiden Frauen starrten sich einen Moment lang einfach nur an. Die hektischen Menschen, das unverständliche Knistern und Rauschen aus den Lautsprechern, das Rumpeln
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