Ein verhängnisvolles Versprechen
benutzt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das ging uns anfangs genauso. Einer der Schulberater hat sie in seinem Zimmer überrascht. Sie hatte sich eine Zeugniskopie ausgedruckt. Aber wie sich herausstellte, war es ihr eigenes Zeugnis.«
Myron überlegte. »Sind die Computer nicht passwortgeschützt?«
»Doch.«
»Und wie ist sie dann da reingekommen?«
Reid drückte sich sehr vorsichtig aus. »Wir sind uns nicht sicher, gehen aber davon aus, dass jemandem in der Verwaltung ein Fehler unterlaufen ist.«
»Was für ein Fehler?«
»Da hat wohl jemand vergessen, sich korrekt abzumelden.«
»Das heißt, der Rechner war noch angemeldet, so dass sie direkt auf die Zeugnisse zugreifen konnte.«
»Das ist unsere Theorie, ja.«
Und die ist ziemlich schwach, dachte Myron.
»Warum bin ich darüber nicht informiert worden?«, fragte Claire.
»Es war eigentlich keine große Sache.«
»In die Datenbank der Schule einzudringen ist keine große Sache?«
»Sie hatte nur ihr eigenes Zeugnis ausgedruckt. Wie Sie wissen, war Aimee eine ausgezeichnete Schülerin. Sie hat vorher nie Schwierigkeiten gehabt. Wir haben beschlossen, sie mit einer ernsten Warnung davonkommen zu lassen.«
Und sich selbst nicht in Verlegenheit zu bringen, dachte Myron. Die Verlautbarung, dass eine Schülerin ins Computersystem der Schule eingedrungen war, hätte gar nicht gut ausgesehen. Also wurde wieder einmal etwas unter den Teppich gekehrt.
Sie erreichten Aimees Spind. Amory Reid schloss ihn auf. Als er die Tür öffnete, traten alle einen Schritt zurück. Myron näherte sich als Erster. Die Sachen in Aimees Spind waren sehr persönlich. An den Wänden klebten ähnliche Fotos, wie er sie auch in ihrem Zimmer gesehen hatte. Randy war wieder nicht dabei. Es gab auch ein paar Bilder ihrer Lieblings-Gitarristen. An einem Bügel hing ein T-Shirt von der American Idiot Tour der Band Green Day, an einem anderen ein Sweatshirt des New-York-Liberty- Frauenbasketballteams. Aimees Schulbücher waren in Schutzumschläge eingehüllt auf dem Boden gestapelt. Im obersten Fach lagen ein paar Haarbänder, eine Bürste und ein Spiegel. Claire nahm sie sanft in die Hand.
Myron entdeckte hingegen nichts, was ihm weiterhalf. Keinen direkten Hinweis, kein Schild, auf dem stand DA IST AIMEE.
Myron kam sich leer und verloren vor, als er in den Spind starrte, in dem Aimee so präsent war, dass ihre Abwesenheit noch bedrückender wurde.
Die düstere Stimmung wurde erst durch das Klingeln von Reids Handy unterbrochen. Er nahm den Anruf an und hörte kurz zu. Dann beendete er das Gespräch.
»Ich habe eine Vertretung für Mr Davis’ Klasse gefunden. Er erwartet Sie in meinem Büro.«
37
Als Drew Van Dyne bei Planet Music ankam, dachte er an Aimee und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Wenn er nicht mehr weiterwusste, wenn ihn das Leben oder die falschen Entscheidungen, die er so oft getroffen hatte, zu sehr verwirrten, griff er entweder zu Medikamenten und Drogen, oder er suchte, wie jetzt, Trost in der Musik.
Er hatte sich die Hörer seines iPods tief in die Ohren gerammt. Er hörte Gravity von Alejandro Escovedo, genoss das Stück und versuchte dabei herauszubekommen, wie Escovedo das Stück geschrieben hatte. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Er versuchte, das Stück so professionell wie möglich in seine Einzelteile zu zerlegen. Dann entwickelte er eine Theorie über den Ursprung, überlegte, woher die Idee stammte und was die erste Inspiration gewesen sein mochte. War zuerst ein Gitarrenriff, der Refrain oder eine bestimmte Strophe oder Textzeile vorhanden gewesen? Hatte der Komponist Liebeskummer gehabt, war er traurig gewesen oder voll überschäumender Freude – und warum hatte er sich so gefühlt? In welche Richtung entwickelte sich der Song nach den ersten paar Tönen? Van Dyne stellte sich den Komponisten am Klavier oder beim Stimmen der Gitarrensaiten vor, wie er sich Notizen machte, ein paar Töne änderte, die Neuerung wieder ausstrich und so weiter.
Glückseligkeit. Es war schiere Glückseligkeit. Einen Song analysieren. Trotz allem. Obwohl er dabei immer diese leise Stimme im Ohr hatte, die ihm zuflüsterte: »Das hättest du sein können, Drew.«
Du vergisst deine Frau, die dich wie einen Hundehaufen ansieht und jetzt die Scheidung will. Du vergisst deinen Vater, der dich verlassen hat, als du noch klein warst. Du vergisst deine Mutter, die jetzt krampfhaft wiedergutzumachen versucht, dass sie sich jahrelang einen
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