Ein verhängnisvolles Versprechen
Leben vor unserem kleinen Schwätzchen war das eine. Jetzt hat was ganz Neues angefangen. Das soll nicht übermäßig melodramatisch klingen, aber ich werde nicht lockerlassen, bis ich genau weiß, was passiert ist. Egal, wie schlimm das ist oder wie viele Menschen darunter leiden müssen.«
»Ich weiß nichts«, sagte er. »Aimee ist nie bei mir zu Hause gewesen.«
Hätte man Myron kurz vorher gefragt, hätte er geantwortet, dass er eigentlich gar nicht so wütend gewesen sei. Und genau das war wohl auch das Problem: die fehlende Vorwarnung. Er hatte in normaler Lautstärke gesprochen. In seiner Stimme hatte zwar eine leichte Drohung gelegen, doch er hatte sich nicht bewusst beherrschen müssen. Hätte er gemerkt, wie seine Wut wuchs, hätte er sich darauf vorbereiten können. Doch jetzt ergriff sie ihn mit einem Schlag und bestimmte sein Handeln.
Myron bewegte sich blitzschnell. Er packte Davis hinten am Nacken, drückte auf die Nervenknoten unten an den Schultern und zog ihn ans Fenster. Davis stieß einen kurzen Schrei aus, als Myron sein Gesicht kräftig gegen die von außen verspiegelte Scheibe drückte.
»Gucken Sie da raus, Mr D.«
Claire saß aufrecht im Wartebereich. Sie hatte die Augen geschlossen. Sie hielt sich für unbeobachtet. Tränen flossen ihre Wangen hinunter.
Myron drückte kräftiger.
»Aua!«
»Sehen Sie das, Mr D?«
»Lassen Sie mich los!«
Scheiße. Die Wut war ausgebrochen und dann verraucht. Die Vernunft hielt wieder Einzug. Myron ärgerte sich genau wie bei Jake Wolf über seinen unkontrollierten Wutausbruch und ließ los. Davis trat zurück und rieb sich den Nacken. Sein Gesicht war dunkelrot.
»Wenn Sie noch mal in meine Nähe kommen«, zischte Davis, »zeige ich Sie an. Ist das klar?«
Myron schüttelte den Kopf.
»Was?«
»Sie sind erledigt, Mr D. Sie wissen es nur noch nicht.«
38
Drew Van Dyne fuhr zurück zur Livingston High School.
Wie hatte Myron Bolitar mitgekriegt, dass er etwas mit diesem Durcheinander zu tun hatte? Drew war jetzt in Panik. Er war davon ausgegangen, dass Harry Davis, dieser Inbegriff eines pflichtbewussten Lehrers, den Mund halten würde. Das wäre besser gewesen; es hätte Drew ermöglicht, sich um alles zu kümmern, was auf ihn zukam. Aber jetzt war Bolitar irgendwie bei Planet Music gewesen. Er hatte sich nach Aimee erkundigt.
Irgendjemand musste geplaudert haben.
Als er auf den Parkplatz fuhr, sah er, wie Harry Davis aus der Tür stürzte. Drew war kein Fachmann für Körpersprache, aber Davis war wirklich kaum noch wiederzuerkennen. Er schleppte sich mit geballten Fäusten und hängenden Schultern dahin. Normalerweise ging er mit federndem Schritt, hatte ein Lächeln im Gesicht, winkte dem einen oder anderen zu, und manchmal pfiff er sogar vor sich hin. Heute nicht.
Van Dyne fuhr auf den Parkplatz und schnitt Davis den Weg ab. Als Davis ihn sah, bog er nach rechts ab.
»Mr D?«
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Wir müssen uns kurz unterhalten.«
Van Dyne war ausgestiegen. Davis ging weiter.
»Sie wissen, was passiert, wenn Sie mit Bolitar reden, ja?«
»Ich hab ihm nichts gesagt«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
»Und das tun Sie auch in Zukunft nicht?«
»Steigen Sie wieder in Ihren Wagen, Drew. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.«
Drew Van Dyne schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie das nicht, Mr D. Sie haben wirklich viel zu verlieren.«
»Das haben Sie mir jetzt oft genug gesagt.«
»Mehr als alle anderen.«
»Nein.« Davis war an seinem Wagen angekommen. Er stieg ein und sagte: »Am meisten hat Aimee zu verlieren, finden Sie nicht?«
Van Dyne erstarrte. Er legte den Kopf schräg. »Wie meinen Sie das?«
»Denken Sie mal drüber nach«, sagte Davis.
Er schloss die Tür und fuhr los. Van Dyne atmete tief durch und ging zurück zu seinem Wagen. Aimee hatte am meisten zu verlieren … Das brachte ihn auf einen Gedanken. Er ließ den Motor an und wollte losfahren, als der Seiteneingang der Schule wieder aufging.
Aimees Mutter kam aus derselben Tür, aus der der beliebte Pädagoge Harry Davis vor ein paar Minuten herausgestürmt war. Hinter ihr folgte Myron Bolitar.
Die Stimme am Telefon, die ihn vorhin gewarnt hatte: Mach jetzt keine Dummheiten. Es ist alles unter Kontrolle.
Er glaubte nicht, dass alles unter Kontrolle war. Absolut nicht.
Drew Van Dyne griff nach dem Autoradio, als wäre er unter Wasser und das Radio die einzige Sauerstoffquelle. Im CD-Spieler lag die neueste CD von Coldplay. Er fuhr los und
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