Ein verruchter Lord
dafür dankbar bist. «
» Dankbar? « Laurels Magen krampfte sich zusammen, und die Schwester kam ihr mit einem Mal wie eine völlig Fremde vor. » Wie kommst du auf die Idee, ich könnte erleichtert oder dankbar gewesen sein, als man mir von einer Totgeburt berichtete? «
Amaryllis reckte trotzig den Kopf. » Warum nicht? Es war schließlich das Beste so, für dich und die ganze Familie. Alles war gut, bis Jack durch diese Tür kam und mich fragte, ob … «
» Schluss. Es reicht mit deinen Lügen. « Laurel hob abwehrend eine Hand. » Ich verlasse dieses Haus, um mein Kind zurückzuholen. Mein Anteil am elterlichen Erbe wird reichen, uns beide über Wasser zu halten. Ich will mit der ganzen verdorbenen und verlogenen guten Gesellschaft nichts mehr zu schaffen haben. Auch nicht mit dir und diesem elenden Jack Redgrave! « Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürmte aus dem Raum. Nichts war mehr von Unterwerfung zu spüren – die unterdrückte Verwandte strahlte plötzlich ungewohntes Selbstbewusstsein und unbedingte Zielstrebigkeit aus. Energisch rauschte sie mit wehenden Röcken zur Tür hinaus, ohne sich ein einziges Mal nach der völlig verblüfften Schwester umzudrehen.
» Du undankbares Frauenzimmer! Du kannst nicht gehen! Das wagst du nicht! Wer soll meinen Haushalt führen? Laurel, wer soll meine Dinner und Bälle organisieren? Laurel « , rief sie der Davoneilenden nach.
Die junge Frau, die mit klopfendem Herzen einem neuen Leben zustrebte, hörte nichts mehr von den Bitten und Drohungen der Schwester, wollte nichts hören. In ihrem Kopf war nur noch Platz für eines. Für ihre Tochter, deren Namen sie immer wieder still vor sich hin flüsterte.
Melody.
Als Jack mit Melody beim Brown’s Gentlemen Club vorfuhr, öffnete sich die Eingangstür bereits, bevor die Kutsche ganz zum Stehen gekommen war. Wilberforce, der Majordomus, schaute ihnen mit undurchdringlicher Miene entgegen, doch hinter ihm erspähte er mehrere erwartungsvolle Gesichter, die ihre Neugier nur schwer zügeln konnten.
Natürlich. Jeder würde wissen wollen, was er herausgefunden hatte, denn schließlich sorgten sich alle um Melodys Zukunft. Jack verspürte ein dumpfes Grauen bei dem Gedanken an das, was ihnen allen bevorstand. Die Kleine hatte im Brown’s eine Familie gefunden. Innerhalb der ehrwürdigen Mauern war sie von liebenden Menschen umgeben, die sämtlich in sie vernarrt waren. Einschließlich des Personals und einem Dutzend vernarrter Möchtegerngroßväter. Er musste ihnen sagen, dass Melody nicht bleiben konnte, weil sie zu niemandem von ihnen gehörte.
Evan würde es besonders schwer treffen, dachte er, als er das magere Gesicht des Zwölfjährigen erspähte, der sich teilweise als Beschützer von Melody fühlte und sich teilweise von ihr herumkommandieren ließ. Obwohl er es eigentlich unter seiner Würde fand, mit ihr Vater-Mutter-Kind zu spielen und Teepartys zu geben, war er stets bei seiner kleinen Mellie zu finden. Im Gegensatz zu allen anderen hatte der Junge Jacks Besuch bei Amaryllis heftig abgelehnt. Der kleine Bruder von Colins junger Ehefrau hatte in seinem kurzen Leben bereits zu viel Leid und Chaos erfahren, um zu wissen, dass eine Veränderung nicht immer zum Besten war.
Damit hatte Evan genau richtig gelegen. Jack griff nach Melodys kleiner Hand und half ihr die Stufen der Marmortreppe hinauf. Oben löste sie sich von ihm und rannte los, um Wilberforce atemlos von den Erlebnissen des Tages zu berichten, während Jack hinüberhing zu den wartenden Freunden.
Aidan de Quincy, der Earl of Blankenship hielt sich ein wenig abseits, doch Jack wusste nur zu gut, dass der sensible Mann außer ihm selbst womöglich am meisten unter der neuesten Entwicklung leiden würde. Immerhin war er der Erste gewesen, der das Findelkind als sein eigen Fleisch und Blut betrachtete und ihm ein Heim und eine gesicherte Zukunft bieten wollte.
Seine junge Ehefrau Madeleine hielt sich dicht an seiner Seite, und es schien, als würden sie sich gegenseitig stützen. Jedenfalls boten sie ein Bild perfekter Harmonie und eines Gleichklangs der Seelen. Jack bemerkte es, ohne es wirklich zu verstehen. Ihm schien es undenkbar, dass eine Frau in seine Seele zu blicken vermochte. Und falls doch würde sie an dem, was sie da zu sehen bekäme, bestimmt keinen Gefallen finden und ihn kaum lieben können.
In der Nähe der großen Freitreppe lehnte Colin, sein ältester Freund und Gefährte aus Kinderzeiten, scheinbar gelassen an der
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