Ein verwegener Gentleman
zurück. Sie hatte ihn nie mit dem skandalösen Schurken Ross Trelawney in Verbindung gebracht, über den die Matronen stets flüsternd getratscht hatten. Wenn ihr Debüt nicht frühzeitig abgebrochen worden wäre, hätte das Schicksal dem vielleicht Abhilfe geschaffen …
„Sie sollten mir gestatten, das für Sie zu tun, Mylord.“
Ross lächelte leicht. „Wenn es einen Menschen gibt, dem ich erlauben würde, eine Klinge an meine Kehle zu halten, dann sind Sie das, Henderson“, antwortete er seinem Kammerdiener, während er sein Rasiermesser langsam und sorgfältig seinen gebräunten Hals hinauf zu dem kantigen Kinn führte, die Augen auf sein Abbild im Spiegel geheftet. Ein raues Lachen ließ ihn kurz über die Schulter blicken.
Guy Markham stand am Fenster des Ankleidezimmers und schüttelte ungläubig den Kopf, während er das unterhaltsame Schauspiel unten auf der Straße beobachtete. Vor wenigen Augenblicken hatte ein Taschendieb einige Aufregung verursacht, als er bei seiner Flucht einen älteren Herrn umgerannt hatte, der bei seinem Sturz seinerseits eine Matrone zu Fall brachte. Der Bursche wähnte sich nun in Sicherheit, drehte sich um und machte eine triumphierende Geste.
Ross warf Guy einen Blick zu. „Ist es ihm gelungen zu entwischen?“
Guy verzog enttäuscht das Gesicht. „Ich fürchte, ja.“
Ross rasierte sich mit einer Hand weiter, während er die andere bedeutungsvoll ausstreckte.
Guy kramte in seiner Hosentasche und reichte seinem Freund eine zerknitterte Banknote.
Ross legte den Geldschein auf den Toilettentisch und beendete seine Rasur. Er schlang ein Seidentuch um seinen Hals, trat neben seinen Freund und blickte auf den Grosvenor Square hinaus. Elegante Kutschen drängten sich auf der Straße, Leute gingen spazieren, und einige livrierte Diener bahnten sich geschäftig einen Weg zwischen den vornehmen Flaneuren hindurch.
In Gedanken ging Ross seine Geschäfte durch. Er hatte noch verschiedene Angelegenheiten zum Abschluss zu bringen, bevor er später nach Kent reiste. Mehrere Briefe mussten erledigt werden: Luke und Rebecca würden seine Mutter zu einem Besuch nach London bringen und wollten eine Bestätigung von ihm haben, dass es ihm passte, wenn sie diese Woche einträfen. Einige Freunde würden ebenfalls bald wieder in London sein und wollten ihm unbedingt zu seiner Erhebung in den Adelsstand gratulieren. Es würde notwendig sein, eine Art Feierlichkeit für sie alle zu veranstalten. Seine jüngere Schwester Katherine hatte ihm geschrieben, sie könne nicht kommen, da sie nach der Geburt ihres Sohnes immer noch ans Haus gebunden war. Aber er sollte Patenonkel werden.
Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, war, dass nun zwei Wochen vergangen waren und er noch keine Rückzahlung von Edwina Sampson erhalten hatte. Es wäre wohl klüger, ihr die Aufwartung zu machen, bevor er nach Stratton Hall aufbrach, um sie an die vertraglichen Verpflichtungen bezüglich des Darlehens zu erinnern. Nicht, dass er sie plagen wollte, aber sein eigenes imposantes Schloss zu restaurieren war ihm ein dringendes Anliegen. Außerdem war er immer noch neugierig herauszufinden, wer die Blonde gewesen war, die ihn angesehen hatte, als sie in diesem klapprigen Einspänner an ihm vorbeigefahren war. Ihr scheuer Blick weckte irgendwelche Erinnerungen … Er hatte den Mann neben ihr nur kurz wahrgenommen. Er hatte wie ein Geistlicher ausgesehen. Ross verbiss sich ein Lächeln. Es wäre typisch für ihn, die Gattin – oder die Tochter – eines Pfarrers zu begehren. Vielleicht waren die beiden Nachbarn von Edwina.
Ross wandte sich vom Fenster ab und schlüpfte in den braunen Frack, den sein Kammerdiener ihm bereitgelegt hatte. In diesem Augenblick kam Henderson mit einem Silbertablett zurück.
„Gehst du heute Abend zu Marias Gesellschaft?“, fragte Guy. „Du könntest doch morgen früh nach Kent aufbrechen.“
Ross schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte heute Nachmittag in Stratton Hall sein. Ich habe dort eine Verabredung mit einem Architekten …“, erklärte er und nahm den Brief an sich, den der Bedienstete ihm reichte.
Guy sah ihn missbilligend an. „Du wirst immer langweiliger. Du klingst wie mein Vater. Diesen Flügel renovieren … jene Terrasse pflastern …“
„Nun, wenn alles dir gehört, dann weißt du auch, warum“, erwiderte Ross grinsend. Er brach das Siegel des Schreibens. Als er die Adresse auf dem Pergament sah, lächelte er. Man konnte sich darauf verlassen, dass
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