Ein verwegener Gentleman
Vorwurfs. Sie begann abwesend mit den Fingern in der Silberschale herumzusuchen. „Wie mir scheint, Pettifer, wollen wir beide das Beste für Lady Elizabeth. Ich nehme an, Sie möchten sie ebenso sehr wie ich glücklich verheiratet sehen. Sie ist neunundzwanzig, wie Sie wissen, und immer noch nicht geneigt, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“
„Ich verstehe sie, Madam. Lady Elizabeth hat ihren Stolz und nicht ohne Grund. Sie ist von edler Geburt und Gesinnung. Natürlich liegt mir daran, sie glücklich zu sehen.“
„Sie glauben nicht, dass sie es ist?“, hakte Edwina nach.
„Ich denke, sie ist manchmal etwas … wehmütig“, erwiderte Harry mit Bedacht.
Edwina nickte langsam und betrachtete ihn nachdenklich. „Ja … wehmütig … so ist es. Sie sollte einen Ehemann haben … und nicht wehmütig sein.“
„Ich stimme Ihnen von Herzen zu, Madam. Lady Elizabeth wäre dem betreffenden Gentleman eine ausgezeichnete Gattin.“
„Und ihre Kinder könnten keine bessere Mutter haben“, fügte Edwina hinzu. „Sie hat so viel Zuneigung zu geben. Armen und Obdachlosen beizustehen ist kein Ersatz für einen Gatten und Kinder, denen sie ihre Liebe schenken kann. Vielleicht braucht sie nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, um das zu erkennen.“
„Ich denke, das sind kluge Worte, Madam. Genau das, was ich auch empfinde“, sagte Harry und nickte bedächtig.
Edwina legte den Kopf schief. „Es war nett, Trelawney nach so langer Abwesenheit wiederzusehen, meinen Sie nicht?“
„In der Tat, Madam. All die Jahre habe ich den Gentleman in Ihren Häusern willkommen geheißen, und er war sich nie zu schade, mit mir zu sprechen und mich zu fragen, wie es mir geht. Meiner Meinung nach ist Viscount Stratton ein ganz großartiger Bursche.“
„Ich denke, das sind kluge Worte, Pettifer. Genau das, was ich auch empfinde“, sagte Edwina und warf dem Butler unter den Wimpern hervor einen zuneigungsvollen Blick zu. „Mir scheint, wir stimmen in unseren Ansichten über meine Enkelin und den Viscount überein. Ich frage mich, ob es eine Möglichkeit gibt, wie das den beiden zugutekommen könnte …“
Während Lady Elizabeth Rowe entspannt in ihrem warmen, duftenden Badewasser lag, kamen ihr lange verdrängte, schmerzliche Erinnerungen in den Sinn. Menschen … Ereignisse … Gespräche … alles fiel ihr nach und nach wieder ein. Vor zehn Jahren war sie mit ihrem geliebten Vater und Großmutter Rowe nach London gekommen. In jenem Sommer war es von Mai bis September ständig heiß und feucht gewesen. Ihre Großmutter mütterlicherseits und ihre Großmutter väterlicherseits verabscheuten sich gegenseitig gleichermaßen, daher war Edwina Sampson sofort nach Harrogate aufgebrochen, um ihre Schwester zu besuchen. Elizabeth war im Frühjahr an ihrem achtzehnten Geburtstag bei Hofe vorgestellt worden, und damit hatte die denkwürdigste, aufregendste und entsetzlichste Zeit ihres jungen Lebens begonnen. Aber zu dem Zeitpunkt hatten ihr lieber Papa und sie nur bedauert, dass ihre Mutter nicht mehr unter ihnen weilte, um zu erleben, wie glücklich und bezaubernd sie aussah. Sie besaß alles, was eine junge Dame sich wünschen konnte: Schönheit, Lebhaftigkeit und einen nachsichtigen Vater, der ihr sehr zugetan war.
Als Tochter eines Marquess war sie eine beliebte Debütantin gewesen, um deren Gunst die Gentlemen gewetteifert hatten. Sie hatten seufzend verkündet, dass ihr seidiges perlmuttfarbenes Haar und ihre veilchenblauen Augen einzigartig wären. Sie war die Unvergleichliche der Saison. Ständig von fröhlichen, modischen Bekannten umlagert, die im Stadthaus ihres Vaters in Mayfair vorsprachen, ständig mit Einladungen zu den prächtigsten Bällen, den elegantesten Soireen überhäuft, hatte sie die Aufmerksamkeit vieler begehrenswerter Herren auf sich gezogen. Insgesamt hatte sie innerhalb eines Monats neun Heiratsanträge erhalten. Aus jugendlicher Eitelkeit und einer Arroganz heraus, die auf ihre verwöhnte, privilegierte Erziehung zurückzuführen war, hatte Lady Elizabeth Rowe mit jedem ihr ergebenen Beau ein wenig geflirtet, mindestens ein halbes Dutzend Herzen gebrochen und all das für belanglos und amüsant gehalten, denn insgeheim hatte sie bereits innerhalb von nur vier Wochen nach ihrer Ankunft in London ihre Wahl getroffen.
Obwohl die Dowager Marchioness sie mit Adleraugen bewachte, hatte Elizabeth sich bis über beide Ohren verliebt. Der Mann, der ihr den Kopf verdreht hatte,
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