Ein verwegener Gentleman
die Pistole von der rechten Hand in die linke. Er hob sie, zielte auf den Scheitel des Earls und betätigte den Abzug.
„Ist Ihnen auch warm genug? Hier, nehmen Sie diese Decke.“
Elizabeth lächelte den Reverend an. „Wie spät ist es, Hugh?“
„Fünf Uhr dreißig …“
Elizabeth nickte und blickte mit gerunzelter Stirn in den kalten Morgennebel hinaus. „Ich bin Ihnen für Ihre Begleitung dankbar, Hugh.“
„Sie wissen doch, dass ich alles für Sie tun würde, Elizabeth“, erwiderte der Geistliche barsch. „Selbst wenn ich es nicht sollte. Ihre Großmutter wird mich wahrscheinlich dafür umbringen … wenn es Ihr Verlobter nicht tut …“ Er warf ihr von der Seite einen betrübten Blick zu. „Warum haben Sie es mir nicht selbst erzählt? Warum musste ich von Sophie erfahren, dass Sie sich bald vermählen werden? Mit einem solchen Mann wie ihm?“
„Er … der Viscount ist ein guter Mann“, verteidigte sie ihn ruhig. „Und ich … ich hätte es Ihnen erzählt, Hugh. Es ist nur … oh, es war alles so ein Durcheinander. Zuerst dachte ich, ich wollte ihn nicht heiraten … dann wollte ich es doch … Und jetzt … jetzt denke ich, ich werde es tun …“ Sie legte eine Hand an die Schläfe. „Bitte erwarten Sie nicht, dass ich es erkläre, ich verstehe es ja kaum selbst.“
Und das war nur zu wahr! Was sollte sie von dem, was gestern Abend geschehen war, halten? Er hatte mit ihr durchbrennen wollen, um acht Uhr abends und ohne einen besonderen Grund. Er hatte sich selbst als grünen Jungen bezeichnet, weil er ihr seine Gefühle so ungeschickt offenbart hatte. Wie war es ihm dann gelungen, dass sie kapituliert hatte? Dass er ihre Liebe gewonnen hatte? Inzwischen hatte sie erkannt, dass sie ihn liebte, und wenn er sie noch einmal fragen würde, dann würde sie mit ihm gehen!
Sie wollte ihn. Und selbst das Wissen, dass andere Frauen ihn ebenfalls wollten, änderte nichts daran.
War sie nur eine verliebte Närrin? Jetzt war sie hier, um eine arme Frau zu retten, deren unkluges Vertrauen und unerwiderte Liebe zu einem Betrüger sie an den Rand des Verderbens geführt hatten. Welchen Grund konnte Ross haben, sie mit so ungebührlicher Eile heiraten zu wollen? Sicher nichts anderes als niedrige, selbstsüchtige Motive. Sie seufzte. Im Augenblick musste sie erst einmal versuchen, Jane und ihrem Sohn zu helfen. Plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie sich seit zehn Jahren darauf konzentriert hatte, die Armen und Bedürftigen zu unterstützen, weil sie es nicht ertragen konnte, sich mit ihrem eigenen Leben zu befassen.
„Wenn ich glauben würde, dass Stratton Sie glücklich macht, dann würde ich die Verbindung selbst segnen“, sagte Hugh fromm. „Aber was ich über seine … Lasterhaftigkeit gehört habe, macht mir wenig Hoffnung, dass er einen würdigen Gemahl abgeben wird. Natürlich könnten Sie sein Fehlverhalten übersehen …“ Er brach ab und lauschte auf das Getrappel herannahender Hufe, das vom Rumpeln von Kutschenrädern untermalt wurde. Elizabeth hörte die Chaise ebenfalls.
Einen Augenblick später hielt eine Mietdroschke neben ihnen an, und noch bevor sie richtig stand, war Nathaniel Leach herausgesprungen und stolzierte mit den Händen in den Hosentaschen auf sie zu. Elizabeths Blick schweifte zu den beiden Personen, die in der Droschke saßen. Jane und ihr Sohn starrten zurück.
Leach zog den Hut. „Reverend … Mylady“, grüßte er freundlich, als ob er gerade aus der Sonntagsmesse käme.
Hugh war kaum fähig zu reagieren. Er nickte dem Ganoven nur kurz zu und fuhr ihn dann an: „Bringen Sie Mrs. Selby und ihren Sohn hierher.“
Nathaniel Leach schielte Elizabeth an. „Glaube, Sie ham ’n gewisses Etwas für mich, Mylady?“
Elizabeth zog die Halskette aus ihrer Tasche, hielt sie jedoch noch fest. Leachs Augen klebten beinahe an dem Schmuck. Sogar im fahlen Morgenlicht funkelten die Steine großartig. Ungeduldig winkte er den Insassen der Mietdroschke zu. Die beiden erhoben sich, und Jane half ihrem Sohn beim Aussteigen.
Eine zerfledderte Kladde mit Eselsohren landete auf dem Sitz des Einspänners. „Das Abrechnungsbuch für Sie, wie Sie’s wollten. Alles klar!“
Elizabeth nickte nur. Sie zögerte, ihr Erbstück herauszugeben, obwohl Mutter und Kind nun mit ausdruckslosen Gesichtern neben dem Schurken standen.
Dem gerissenen Leach entging das alles nicht. Er hob Janes Sohn auf den Sitz neben Hugh. „So. Sei schön brav bei der Dame …“, wies er den Knaben
Weitere Kostenlose Bücher