Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
seltsame, unerwartete Streiche spielen. Manchmal war es unmöglich, zwischen dem, was wirklich geschehene war, und dem, was man sich gewünscht hatte, wovon man geträumt hatte oder was einem erzählt worden war, zu unterscheiden. Und doch glaubte man, es zu können …
»Na ja, da ist natürlich die Sache mit der Pension«, sagte Tess jetzt zu den anderen.
Mit Ginny hatte sie lange und eingehend darüber gesprochen und sie gefragt, was sie davon halten würde, wenn ihre Mutter auf Sizilien leben würde, jedenfalls eine Zeit lang. Würde sie in Australien finden, was sie suchte? Würde sie irgendwann mehr Zeit bei ihrem Vater verbringen? Oder würde sie früher als erwartet nach England zurückkehren – oder vielleicht sogar ebenfalls nach Sizilien ziehen? Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf, aber über diese Brücke würden sie gehen, wenn sie sie erreicht hatten, hatte Tess in einem Versuch, das Ganze philosophisch zu sehen, gesagt. Sie war durchaus bereit, nach England zurückzukehren, wenn es sein musste. Sie hatte vor, das Haus in Pridehaven zu vermieten, damit sie, wenn nötig, wieder dort einziehen konnte. Es war hart für Tess, nicht zu wissen, wann sie ihre Tochter wiedersehen würde, aber sie würde ihr nicht im Weg stehen. Sie hatte gelernt, Ginny ihren Freiraum zu lassen, für sie da zu sein und sie doch loszulassen. »Ich hab dich lieb, Mum«, hatte Ginny erklärt. »Und du wirst mir fehlen. Aber …«
»Das ist etwas, was du tun musst.« Tess nickte. Sie war stolz auf ihre Tochter. Ginny hatte ihre eigene Reise angetreten. Sie waren jetzt wieder ein starkes Team.
»Sobald ich es mir leisten kann, werde ich Personal einstellen«, fuhr Tess fort. Aber für den Anfang würde sie allein zurechtkommen müssen. »Ich werde die Sprache lernen, und ich habe vor, ein Tauchcenter zu eröffnen.« Cetaria schrie geradezu danach, denn hier gab es eine so vielfältige Unterwasserwelt. Und doch schien sich niemand dieses Potenzials bewusst zu sein, noch nicht jedenfalls. Das nächste Tauchcenter lag ungefähr dreißig Kilometer entfernt auf dem Weg nach Palermo und zum Flughafen. Abgesehen von Tess’ Pension gab es in der Gegend noch weitere Hotels und Pensionen, in denen Touristen absteigen konnten. Tess hatte vor, Ausrüstungen zu verleihen, Kurse oder Tauchausflüge zum Fotografieren anzubieten, vielleicht sogar ganze Tauchurlaube. Ihr Plan war ehrgeizig, aber auch aufregend. Warum sollte sie es also nicht versuchen? Sie hatte schon mit Tonino darüber gesprochen, welche Ziele eine solche Tauchbasis verfolgen sollte, nämlich das unterseeische ökologische und archäologische Erbe dieser Gegend zu schützen.
»Das ist nun wirklich etwas anderes als das Wasserwerk, Schatz«, meinte ihr Vater, als Tess ihren Bericht beendet hatte. »Obwohl ja beides mit Wasser zu tun hat.« Sie lachten. »Fühlst du dich der Sache wirklich gewachsen?«
»Natürlich ist sie das.« Mumas nachdrücklicher Tonfall überraschte Tess. »Sie ist schließlich meine Tochter, oder?«
Alle lachten. Sie würde später noch einmal mit ihrem Dad reden müssen, um ihn zu beruhigen, dachte Tess. Er war jemand, der sich immer Sorgen machte, und am Flughafen war sie schockiert darüber gewesen, wie alt er aussah. Sein Haar sah dünner aus, sein Rücken gebeugter, und seine Augen schienen trüber geworden zu sein. Als sie ihn umarmte und seinen vertrauten Geruch wahrnahm, hatte sie ihn gar nicht wieder loslassen wollen.
»Der Sturz hat ihn erschüttert«, hatte ihre Mutter ihr zugeflüstert. »Es wird dauern, bis er darüber hinwegkommt.«
»Ist er so schlimm verletzt?« Sie hatten ihr doch erzählt, er hätte nichts weiter als ein gebrochenes Handgelenk und ein paar Schnittwunden und Prellungen davongetragen.
»Seine Würde hat Schaden genommen.« Muma hatte genickt. »Plötzlich ist ihm klar geworden, dass er ein alter Mann ist.«
Tess musste sich abwenden, um ihre Gefühle zu verbergen. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern alt wurden, sie wollte sie nie verlieren.
»Wer hätte das gedacht, meine Liebste?«, sagte Lenny jetzt, an Flavia gerichtet. »Dass unsere Tochter nicht nur nach Sizilien fahren, sondern sich sogar verlieben würde.«
Verlieben? Tess errötete.
»Ich hatte Angst davor«, gestand ihre Mutter. Sie schnalzte mit der Zunge. »Sizilien ist eine Verführerin.«
Sizilien? Ja, es stimmte, sie hatte sich in diese Insel verliebt. Aber es war mehr als das. Sie fühlte sich hier zu Hause.
»Willst du das alles allein
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