Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
schnappte nach Luft. Gold. Bronze. Alte Bronzemünzen, geschmückt mit Bildern von Pferden und Weinstöcken, griechischen Kriegern, Tauben, Schlangen … Ehrfürchtig ließ sie die Münzen durch ihre Finger gleiten. Manche waren dick und schwer, andere fragil wie trockenes Laub. Die Prägungen waren vom Alter stumpf, aber noch deutlich zu erkennen, die Ränder uneben, aber nicht beschädigt. Da waren auch Blätter, Medaillons und Fingerringe aus Gold. Tess nahm einen ovalen Ring, in den das Bild eines alten Mannes getrieben war. Er ging gebückt und stützte sich auf einen Stock, und ein Hund schien ihm den Weg zu weisen. Das Bild war so komplex und die Arbeit so filigran … Ein schmaler Armreif, ganz dünne, mit Edelsteinen besetzte Haarnadeln, Ohrringe in Gestalt goldener Spiralen und Kettenanhänger, von denen einer einen Jungen auf einem Delfin und der andere eine nackte Frau darstellte. »Märchenhaft«, sagte Tess. »Einfach märchenhaft.«
Tonino ließ die alten Münzen und den Goldschmuck durch seine Hände gleiten. »Jetzt wissen wir, was darin versteckt war«, murmelte er. Er zog eine Augenbraue hoch und sah Tess an. »Ich nehme mal an, das ist der tesoro «, sagte er.
72. Kapitel
A uf diesen Moment hatte sich Tess seit Tagen gefreut, und manchmal hatte sie nicht mehr geglaubt, dass er wirklich kommen würde. Aber jetzt waren sie hier in Cetaria, Muma, Dad und Ginny. Sie wollten hier Urlaub machen, und danach, so lautete der Plan, würde Tess mit ihnen zurück nach England fliegen, bevor Ginny dann nach Australien abreiste. Und danach …
»Was hat dich denn am Ende dazu bewogen zurückzukommen?«, fragte Tess ihre Mutter.
Die vier saßen an einem Tisch in dem Restaurant am baglio , gegenüber dem alten Steinbrunnen.
»Es war Zeit.« Ihre Mutter sah zwar müde aus, aber ihre Wangen leuchteten vor Aufregung. Behutsam zog sie ein dickes, in rotes Leder gebundenes Notizbuch aus ihrer Handtasche und legte es neben ihren Salatteller auf den Tisch.
»Aha«, sagte Ginny, die ihr gegenübersaß, ohne jedoch weiter zu präzisieren, was sie damit meinte. Ihre Flüge nach Australien waren gebucht, die Visa besorgt. Sie und Becca hatten schon alles geplant: Jugendherbergen und Obsternte und den Aufenthalt in Davids Wohnung. Sie hatte Tess heute Nachmittag auf dem Weg vom Flughafen nach Cetaria davon erzählt.
David … Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Ginny genauer nach David zu fragen. Doch sie spürte, dass David zu einem guten Zeitpunkt in das Leben ihrer Tochter getreten war. Nicht zum richtigen, denn der wäre bei Ginnys Geburt gewesen. Aber zu einem guten Zeitpunkt für Ginny, die gerade die Orientierung verloren hatte. Tess lächelte in sich hinein. Vielleicht hatte es ihrer Tochter geholfen, jemandem zu begegnen, der seinen Weg auch nicht klar vor sich gesehen hatte. Vielleicht war es ja zu viel verlangt, dass ein achtzehnjähriges Mädchen schon wissen sollte, was es mit seinem Leben anfangen wollte, besonders in dieser Welt, in der die Möglichkeiten so vielfältig waren. Tess war sich ziemlich sicher, dass sie sich mit ihren neununddreißig gerade eben erst entschieden hatte.
»Erzähl uns doch mehr von deinen Plänen, Schatz«, sagte ihr Vater wie auf ein Stichwort hin.
Tess konnte ihren Blick kaum von dem roten, in Leder gebundenen Notizbuch losreißen. Sie hatten bereits über ihre Pläne für die Villa Sirena gesprochen, und Muma war mit diesem besonderen Blick von einem Zimmer ins andere gegangen, als könne sie nicht ganz glauben, dass sie hier war und das alles wiedersah, die Villa ihrer Kindheit. Nachdem sie alle Ende der Woche abgereist sein würden, würde die Renovierung richtig beginnen, und wenn Tess nach Cetaria zurückkam, würde hoffentlich alles fertig und bereit für den Start sein. Danke, David, dachte Tess. Denn es war sein Geld, mit dem sie das alles finanzierte, abzüglich des Teils, den sie Ginny geben würde.
»Ist es so wie in deiner Erinnerung?«, hatte Tess gefragt und den Arm ihrer Mutter genommen. Es war schlimm für sie gewesen, als sie die Ruinen des ehemaligen Häuschens ihrer Familie gesehen hatte, aber Tess hatte sie darauf vorbereitet. Und eigentlich war es die Meerjungfrauen-Villa gewesen, die große Villa aus der Kindheit ihrer Mutter, die sie stärker berührt hatte.
»Nein«, antwortete ihre Mutter. »Und ja.«
Tess hatte gelacht. Sie wusste genau, was sie meinte. Das Gedächtnis war etwas Merkwürdiges. Es arbeitete selektiv und konnte einem
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