Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Westerman – falls er dieser Jemand war – hatte ein biblisches Alter erreicht. Möglich war das schon …
Aber warum? Sie zupfte ihr Tuch zurecht und ging zurück zum Hafen, vorbei an den fröhlich geschmückten und, wie sie fand, geschmacklosen Kiosken, an denen Fisch und Pommes frites, Zuckerwatte und Eis verkauft wurden, vorbei an den Fischerbooten und den Netzen, die zum Trocknen aufgehängt waren und in deren Nähe der starke, unangenehme Geruch des ausgenommenen Fischs schwer in der Luft hing. Trotz seines stolzen Namens war Pride Bay kein Nobelstrand. Aber er war Teil ihrer Kindheit, und er war ihr Zuhause. Und was das Beste für Tess war: Dort war das Meer. Das Meer hatte sie im Blut, sie war geradezu süchtig danach.
Auf dem Weg zum Auto rekapitulierte sie den Inhalt des Briefs noch einmal, und kaum dass sie auf dem Fahrersitz ihres Fiat 500 saß, zog sie ihn wieder hervor, strich ihn glatt und griff nach ihrem Handy. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob es stimmte.
»Hier ist Teresa Angel«, erklärte sie der Frau am anderen Ende der Leitung. »Sie haben mir geschrieben.« Sie nannte das Geschäftszeichen. »Ich möchte einen Termin vereinbaren. Aber vorher hätte ich noch ein paar Fragen zu diesem Erbe, das Sie erwähnten …«
Wie in Trance fuhr sie zurück zur Arbeit. Wahrscheinlich war dies eines dieser Ereignisse, die ein Leben verändern konnten. Ihr Leben. Diese Vorstellung jagte ihr schreckliche Angst ein. Sie war neununddreißig. Einerseits sehnte sie sich nach einer Veränderung, andererseits auch wieder nicht. Was, wenn Robin die kühle, labile Helen niemals verließ, obwohl er es ständig versprach? Was, wenn Ginny Hunderte von Meilen entfernt studieren wollte und anschließend nach Katmandu zog? Oder wenn sie selbst für den Rest ihres Lebens in der Kundeninformationsabteilung des Wasserwerks arbeiten musste? Das war unvorstellbar. Manchmal fragte sie sich, warum sie nicht schon längst durchgedreht war. Und jetzt das.
2. Kapitel
T ess fuhr am Marktplatz von Pridehaven vorbei, den Holzbänke und Blumenkübel mit roten und weißen Pelargonien zierten und um den sich das Beach and Barnacle Café , der Feinkostladen und das Kunstzentrum gruppierten. Dieser Ort wirkte vielleicht ein wenig schäbig, aber er wurde jeden zweiten Samstag durch den Markt und die Morris-Tänzer zum Leben erweckt. Früher war die Stadt ein Zentrum der Seiler-Industrie gewesen, aber inzwischen waren die meisten der alten Fabriken zu Wohn-und Bürogebäuden umgebaut worden. Und zu Antiquitätenläden, dachte sie, als sie langsamer fuhr und den Antiquitätenladen an der Ampel passierte, vor dem sich eine Kommode aus Kiefernholz, ein Tisch mit ausklappbaren Seitenteilen und ein grün-goldener Lloyd-Loom-Stuhl hoffnungsvoll auf dem Gehsteig ausbreiteten.
Sizilien … Ungläubig und immer noch grinsend, schüttelte sie den Kopf. Die Erste, die sie anrufen sollte, war natürlich ihre Mutter.
Sie bog nach links in die Saviour Street ein, parkte hinter dem Wasserwerk und ging um das Gebäude herum. Vor dem Haupteingang zog sie ihr Handy wieder aus der Handtasche hervor und wählte Robins Nummer. Ihrer Mutter konnte sie das nicht am Telefon sagen. Aber sie musste jetzt einfach jemandem davon erzählen.
»Hallo, du …«
Tess liebte es, wie sich seine Stimme veränderte, wenn er mit ihr sprach. Sie klang dann intim, leise. So, als habe er vor, sie gleich ganz langsam auszuziehen. Sie erschauerte. »Du errätst nie, was passiert ist«, sagte sie.
»Was denn?« Er lachte.
»Ich habe heute Morgen einen Brief bekommen. Von einem Anwalt in London.«
»Wirklich? Gute oder schlechte Nachrichten?«
Tess holte tief Luft. Sie würde Robin nach der Arbeit treffen, weil heute Donnerstag war und Ginny dann spät vom College nach Hause kam. Zweimal pro Woche war Durchschnitt, dreimal gut und viermal noch nie dagewesen. All ihre Begegnungen waren gestohlene Zeit. Wenn sie keine Gleitzeit hätte, dachte Tess manchmal, würden sie und Robin nie Zeit füreinander haben, dann gäbe es keine späten Mittagessen am Montag (wenn sie miteinander schliefen) und auch nicht den frühen Abend am Donnerstag (dito). Was würden sie dann tun? Aber damit mochte sie sich jetzt nicht beschäftigen.
»Gute«, sagte sie. »Glaube ich.«
»Ich mag gute Nachrichten«, sagte er. »Was ist es?« Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie er in seinem schwarzen Terminplaner herumkritzelte, ein Fischgesicht mit Blasen malte. Angefangen hatte er
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