Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Jahre gedauert, bis Flavia die englische Tradition des Nachmittagstees verinnerlicht hatte. Jetzt war sie regelrecht süchtig danach. Sie fand allerdings, dass es keinen Unterschied machte, ob man seinen Tee um vier, um fünf oder um sechs Uhr trank. Er würde einen nie so aufmuntern wie ein Espresso, aber er war schon für manches gut.
»Warum hat er das Haus dann nicht dir vererbt?«, beharrte Tess. »Du hast ihn wenigstens gekannt. Ich bin ihm nie begegnet.«
»Pffft.« Flavia tat ihren Einwand ab. »Ich bin eine alte Frau. Wahrscheinlich dachte er, ich sei schon tot.«
»Muma!«
Flavia schüttelte den Kopf. Sie wollte dieses Gespräch nicht führen. Sie hatte versucht, Sizilien hinter sich zu lassen, und war nie mit ihrer Tochter dorthin gefahren. Zuerst, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre zurückzukehren, ein zu großes Zugeständnis. Später dann natürlich auch, weil sie sie bestrafen wollte: ihren Vater, dem sie nie verziehen hatte, ihre Mutter, die in ihren Augen einen fast genauso großen Verrat begangen hatte, und sogar die arme Maria, weil sie genau wie die beiden war, weil sie nie verstehen konnte, dass man nur etwas verändern konnte, wenn man kämpfte.
»Muma?« Tess umarmte sie. Flavia roch das Parfüm ihrer Tochter, so süß wie Honig, und in ihrem Haar den schwachen Duft von Orangenblüten. »Du weinst ja.«
»Das kommt von den Zwiebeln.« Mit dem Handrücken wischte sich Flavia über die Augen. »Du weißt doch, dass ich beim Zwiebelschneiden immer weinen muss.«
»Das sind nicht nur die Zwiebeln.«
Ihre Tochter war so einfühlsam. Einen Moment lang schloss Flavia die Augen, um ihre Nähe zu genießen. Die ungezähmte, schöne Tess, der genau wie Flavia in ihrer Jugend in der Liebe übel mitgespielt worden war. Die zu leidenschaftlich liebte, die immer zu viel erwartete. Und die selbst eine unbezähmbare junge Tochter hatte. Aber sie hatte keinen Mann, mit dem sie ihr Leben teilte. Robin zählte für Flavia nicht. Sie mochte nicht einmal an ihn denken. Immer wenn sie an Robin dachte, dachte sie auch daran, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen.
»Nein«, pflichtete sie ihr bei. »Es sind nicht nur die Zwiebeln.« Es war die Vergangenheit, es war immer die Vergangenheit. Sizilien war ein dunkles Land. Und wenn es einem im Blut lag, ließ es einen nie wieder richtig los.
»Hattest du Edward Westerman gern?« Tess, die sogar in Jeans feingliedrig und elegant wirkte, ließ ihre Mutter los, um kochendes Wasser über den Tee zu gießen.
Flavia fuhr fort, Zwiebeln, Knoblauch und Chilischoten zu hacken. Sie bereitete eine Tomatensauce für ihre melanzane parmigiana zu, eines der Lieblingsgerichte ihrer Enkelin. »Ja.« Sie hatte ihn gemocht, weil er unkonventionell war. Und er hatte ihr neue Möglichkeiten aufgezeigt.
»Du hast aber nie viel von ihm erzählt.« Der herausfordernde Blick, den Tess ihrer Mutter zuwarf, besagte, dass Flavia über keinen der Menschen aus ihrer Vergangenheit viel erzählt hatte.
Auch das stimmte. Sie hatte Tess weder verraten, warum sie 1950 mit dreiundzwanzig Sizilien verlassen hatte, noch, warum sie niemals dorthin zurückkehren würde. Sie hatte den Erinnerungen an ihre Jugend nicht erlaubt, an die Oberfläche zu steigen und in ihr englisches Leben einzusickern. Sie hatte nicht verzeihen können. Flavia hielt sich einen Moment an der Arbeitsplatte fest, um durchzuatmen.
»Ich helfe dir, Muma.« Tess stand wieder neben ihr.
»Ich bin noch nicht vollkommen hinfällig«, sagte Flavia zu ihr und spürte, wie sich ihr Atem wieder normalisierte. Sie gab das Öl in die Pfanne. »Noch gehöre ich nicht zum alten Blech, weißt du.«
»Eisen«, murmelte Tess und stellte die Teetassen auf den Tisch.
»Eisen, Blech, was auch immer«, grummelte Flavia und gab Knoblauch, Zwiebeln und Chili hinzu. Ihre Tochter war zu pedantisch, das war die Engländerin in ihr. Sie nahm einen Topf und goss das Öl für die melanzane hinein. Sie hatte ihre eigenen Methoden, ihre eigene Arbeitsweise. Sie arbeitete wie eine gut geölte Maschine, pflegte Lenny zu sagen. Und natürlich gab es einige Gebiete, auf denen Sizilien England immer überlegen sein würde. Olivenöl gehörte zum Beispiel dazu. Auf Sizilien war das beste Öl hell und goldfarben, hier war es grün und stärker aufbereitet. Hier fanden die Leute einen seltsam, wenn man Brot oder Toast damit bestrich. Sie zogen tierische Fette vor. Aber in dieser Hinsicht hatte sich Flavia nicht an englische Traditionen angepasst.
Tess
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