Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
können; sie hatten es geführt, bis sie vor gerade mal zehn Jahren in Pension gegangen waren. Die Arbeit fehlte ihr. Aber jeder musste irgendwann kürzertreten.
»Oder Freunde?«
»Wer weiß?« Flavia begann, die Auberginen zu schneiden. Widerstandslos glitt das Messer durch die glatte dicke Haut und das schwammige Fruchtfleisch. Man musste sie mit Salz bestreuen und eine Weile ziehen lassen, sonst wurden sie bitter.
Edward hatte Freunde gehabt, natürlich. Freunde aus der Kunstszene, vor allem männliche Freunde. Irgendwann hatte sie begriffen, warum sie sich als Mädchen in Edwards Gesellschaft immer so unbefangen gefühlt hatte, sogar wenn sie allein mit ihm war. Ihr wurde auch klar, was es bedeutete, dass man sie überhaupt mit ihm allein gelassen hatte. Heutzutage hätte um seine Homosexualität niemand mehr ein großes Aufheben gemacht, aber damals … In England wären seine Handlungen illegal gewesen, aber auf Sizilien, in einem kleinen Dorf mit einer großen Villa, konnte man sich leicht verstecken. Hier war man in Sicherheit. Es war einfach, jede Menge Hausgäste einzuladen und Partys zu geben. Exzentrische Engländer war man hier gewohnt, wenn man sie auch nicht verstand. Edwards Angestellte waren ihm treu ergeben gewesen, denn die Arbeit bei ihm sicherte ihren Lebensunterhalt, und er behandelte sie gut.
»Vielleicht ist er am Ende ja so etwas wie ein Einsiedler gewesen«, sagte sie ausweichend. Möglich, dass er einsam gewesen war. Das konnte sie sich vorstellen. »So etwas kommt vor, besonders bei Künstlern und Dichtern.«
Tess, die gerade den Wasserkessel füllen wollte, warf ihr einen ungläubigen Blick zu und schnippte sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht. »Und die Menschen, die ihn am Ende gepflegt haben?«, fragte sie. »Irgendjemand muss doch Tante Marias Nachfolge angetreten haben.«
Maria … Das Messer blieb über der violetten Auberginenhaut in der Luft hängen. Der plötzliche Tod ihrer Schwester hatte Flavia erschüttert. Sie hatten einander nicht nahegestanden, was sie den Verlust aber noch stärker empfinden ließ. Denn jetzt war es zu spät für eine Versöhnung.
Maria war nur einmal in England gewesen. Damals war Tess achtzehn. Der Besuch war nicht unkompliziert verlaufen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihr Leben so unterschiedlich war; sie hatten sich in grundverschiedene Richtungen entwickelt. Flavia hatte sich schon vor langer Zeit vollständig integriert; inzwischen dachte sie sogar auf Englisch.
Maria war schüchtern gewesen, dunkel und wachsam wie ein Luchs. Die Art, wie Flavia ihre Tochter großzog, schockierte sie. Du erlaubst ihr, allein auszugehen? Zum Tanzen? Argwöhnisch betrachtete sie Flavias Beziehung zu Lenny, ihre beiläufigen Neckereien, den Umstand, dass Flavia ihm nach dem Essen seelenruhig den Abwasch überließ. Und sie konnte nur schwer akzeptieren, dass Flavia jetzt eine Geschäftsfrau war, die ihr eigenes kleines Restaurant leitete, die Buchführung erledigte und ihr Personal dirigierte.
»England ist eben anders als Sizilien«, hatte sie Maria erklärt, wieder und wieder, wie es ihr vorkam. »Wenn du länger bleiben würdest, könntest du es herausfinden. Hier herrscht eine Freiheit, wie du sie dir nie hast träumen lassen.«
»Ja, vielleicht.« Die arme Maria seufzte, runzelte die Stirn und rang die Hände. »Aber Signor Westerman ist allein. Er braucht mich.«
Flavia vermutete, dass Maria eine solche Freiheit in Wirklichkeit gar nicht wollte. Ihre Schwester war nicht mit Kindern gesegnet und hatte vor vielen Jahren ihren Mann bei einem Verkehrsunfall verloren. Sein Motorroller war eines Abends auf einer Kreuzung in Palermo niedergemäht worden.
»Was hat er da nur gemacht?«, klagte sie Flavia bei ihrem Besuch in England mehr als einmal ihr Leid. »Ich werde es nie erfahren.«
Vielleicht, hatte Flavia gedacht, ist das auch besser so. Schließlich lebten sie immer noch in Sizilien.
»Unsere Familie hat sich so viele Jahre lang um Edward gekümmert«, sagte Flavia jetzt mit bewusst gleichmütiger Stimme und warf die runden Auberginenscheiben in ein Sieb, um sie zu salzen. Zuerst Mama, Papa und sie selbst, dann Maria und Leonardo. »Wahrscheinlich ist es seine Art, seine Wertschätzung zu zeigen.« War das wirklich der Grund? Oder hatte Edward Westerman gewusst, wie sehr sie das belasten würde? Sie vermutete, dass es ihm klar gewesen war.
Tess gab Teebeutel in zwei Tassen und sah Flavia fragend an. »Muma?«
»Bitte.« Es hatte zwanzig
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