Ein weißes Land
Schmeicheleien. Er ließ sich länger aus über den aromatisierten arabischen Zucker, den es zum Tee gab, fragte nach dessen Herstellung und ließ sich bei dieser Gelegenheit vom Großmufti allerlei Geschichten über die Teezubereitung erzählen. Zu meiner Überraschung fragte auch der Reichsführer irgendwann, ob dem anderen der Schriftsteller Karl May geläufig sei. Dieser Mann musste in Deutschland große Bedeutung haben und ich nahm mir vor, wenn es nicht zu schwierig sein sollte, einmal ein Buch von ihm zu lesen.
Mehr als die Araber interessierte den Reichsführer allerdings der Islam im Allgemeinen. Er wusste nicht viel darüber und war bei diesem Thema unsicher. Der Großmufti bemerkte das und gab ihm sogleich einen summarischen Überblick der Geschichte. Der Reichsführer bemühte sich zu verstehen, fragte nach. Es ging um die Kleidung muslimischer Würdenträger, darum, ob sie in irgendeiner Weise einheitlich war und den genauen Rang des Trägers erkennen ließ. Der Großmufti bemühte sich, unterschiedliche Kopfbedeckungen und Gewänder in eine Art System zu bringen, doch musste er so viele regionale Unterschiede einräumen, dass die Sache schließlich eher verwirrend geriet. Er sprach über die vier grundlegenden Richtungen der Sunna, über Abweichler wie die Schiiten und deren Abweichler, die Alewiten, über verschiedene Derwischorden, deren einem damals in Jerusalem sein stärkster politischer Konkurrent entstammte. Er sprach lange, gewahrte es schließlich und wechselte behutsam das Thema. Allen gemeinsam, sagte er, sei das Leid über die jüdische Okkupation Palästinas und die Hoffnung auf Linderung desselben.
Der Reichsführer erging sich sodann in Andeutungen über etwas, das er immerfort als »Sache« bezeichnete, die bereits im Raum stehe und weit über das hinausginge, was die Totenkopfstandarten je zu leisten imstande gewesen seien. Der Großmufti erwiderte, man habe ihm Informationen darüber zugetragen, doch fehlten ihm hier leider Details und das nötige Wissen über geplante Aktionen. Der Reichsführer lachte und versicherte, er wisse, dass der Großmufti stets sehr gut informiert sei und was die fehlenden Informationen betreffe, so sei er unter anderem auch hier, um Abhilfe zu schaffen. Es gebe nämlich die Möglichkeit, einen Eindruck zu bekommen vielleicht nicht von der Größe der bevorstehenden Aufgaben, doch aber von den Möglichkeiten ihrer Bewältigung.
Die Ostgebiete seien weit, warf der Großmufti ein, und seine Aufgaben hier gestatteten es ihm im Augenblick nicht, längere Reisen zu unternehmen.
Der Reichsführer stimmte zu, die deutschen Ostgebiete seien allerdings sehr weit geworden und inzwischen für viele Volksgenossen mit der einzigartigen Erfahrung verbunden, etwas ganz Neues zu schaffen, etwas Unerhörtes, nie Dagewesenes. Derweil sei nun auch eine Änderung der Strategie notwendig geworden. Er selbst habe ja früh schon die Meinung vertreten, dass die Sowjetunion nicht in erster Linie durch Zerstörung von Material, sondern vielmehr durch die Vernichtung von Menschen angepackt werden müsse. Es sei eine einfache Rechnung, hier helfe nur nüchterne Klarheit: 200 Millionen Menschen stünden den deutschen Truppen gegenüber, also könne man sich in etwa ausrechnen, wie viele kampffähige Männer und seinetwegen auch Frauen die Sowjets selbst bei brutalster, rücksichtslosester Rekrutierung aufzubringen imstande seien. Und diesen sicherlich gewaltigen Truppenkörper gelte es auszubluten. Seiner Schätzung nach würde dazu ein gutes Jahr genügen. Es seien eben die schieren Menschenmassen, die hier letztendlich kriegsentscheidend wirkten. Keine leichte Aufgabe, denn trotz aller Entschlossenheit sei es auch und gerade die Konfrontation mit dem Menschentier gewesen, die im Osten manchen an die Grenzen des ihm menschlich und seelisch Möglichen geführt habe. Er wolle sich hier nicht in Einzelheiten ergehen, nur so viel sei gesagt, dass die Herausforderungen so ungeheuerlich seien, dass man dafür in der Geschichte kein Beispiel fände. Eine solche Lage aber führe zwangsläufig zu unvorhersehbaren Situationen, welche noch die beste Organisation nicht ohne Weiteres bewältigen könne. Auch die Deutschen hätten einige Zeit gebraucht, um dem geschichtslosen, ungestalten Raum, den sie dort vorgefunden hätten, Struktur und Sinn aufzuprägen.
Ich hörte, wie er etwas zur Hand nahm, wahrscheinlich ein Buch.
Man müsse sich ein weißes Land denken, fuhr der Reichsführer fort,
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