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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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ähnlich einem unbedruckten Blatt Papier. Alles sei neu, ohne Anhaltspunkt für irgendeine Anordnung der Buchstaben. Also beginne man mit einer Linie den weißen Raum zu gliedern. Das genau sei es, was gerade geschehe und – hier ließ er eine kurze Pause entstehen – es fordere den ganzen Mann. Dieser Titanenkampf, so mythisch er in seinen Dimensionen auch erscheine, werde nicht gegen Drachen oder dergleichen Fabelwesen geführt. Was den Truppen des Reiches gegenüberstünde, sei, neben den handfesten Einheiten des Feindes, eine schwer zu beschreibende Hydra, fähig nicht nur, den Körper seines Gegners, sondern auch dessen Geist und, mehr noch, dessen blutliche Einheit und also sein zukünftiges rassisches Geschick zu beschädigen. Für das deutsche Volk gehe es schlicht um alles in diesem Kampf und doch müsse man darauf vorbereitet sein, auf eine Bestie zu treffen, bereit, in ausweglosen Situationen, die Kameraden zu schlachten und zu fressen, nur um ein paar Stunden länger leben zu können. Deutsche Soldaten hätten das mit Schaudern erlebt. Und zugleich dürfe man nicht vergessen, dass dieses Menschentier immerhin noch menschliche Gestalt habe.
    Der Großmufti sagte, wenn der Reichsführer fürchte, dass ihn im Angesicht jener »Sache« Mitleid überwältigen würde, dann verstehe dieser nicht, welchen tiefen, unauslöschlichen Schmerz ihm der Verlust Jerusalems an die Juden bereitet habe und welch klare Vorstellung er hege von der tief reichenden, bösartigen Macht, welche diese Kreaturen über ihre Bundesgenossen hätten und von der Zerstörung, die sie dadurch zu entfesseln in der Lage seien. Jeder Luftangriff auf Deutschland erinnere ihn daran, jede weinende deutsche Mutter. Es sei aber nun einmal so, man dürfe im Augenblick der Entscheidung nicht wanken, man müsse konsequent zu Ende bringen, was möglicherweise ohne die Ahnung all der kommenden Schrecken begonnen worden sei.
    Etwas weiter als mit einer Linie sei man bereits, meinte der Reichsführer entspannt, aber es gebe noch viel zu tun. Doch das vom Führer bisher Erreichte sei ja vor den Augen der Welt auch schon der Beweis für die Formbarkeit der Geschichte, wenn nur der Wille und die Kraft des Volkes dazu ausreichten. Es gebe in dem großen Plan sicherlich auch einen Platz für die Hoffnungen und Träume der Muselmanen, doch Opferbereitschaft sei die Vorbedingung des Erfolges, die Opferbereitschaft jedes einzelnen.
    Der Großmufti stimmte zu und versicherte, er sei bereit, seinen Teil zu tun, denn er habe nicht ein entbehrungsreiches Leben gelebt und die weite Reise hierher unternommen, um schließlich von Sentimentalitäten am entschlossenen Handeln gehindert zu werden. Er erinnerte den Reichsführer daran, schon seit Längerem sogar die Bombardierung seiner Heimatstadt Jerusalem gefordert zu haben.
    Als hätten sie etwas beschlossen, beendeten sie ihre Unterredung. Ich erhob mich leise und schlich an die Zimmertür zurück. Der Reichsführer verabschiedete sich wortreich und umständlich, fast so, als bedauerte er es wirklich, gehen zu müssen. Vielleicht auch wollte er auf seine soldatische Art verbindlich sein und es gelang ihm einfach nicht, dafür den richtigen Ton zu finden. Mein Herr begleitete ihn noch in den Hof hinaus zu seinem Wagen. Ich stieg rasch die Treppe hinab und sah ihnen durch das Fenster nach. Sobald er im Freien war, straffte sich die Haltung des Reichsführers und er schritt mit geradem Rücken voran. In seinem schwarzen Mantel, mit der Mütze auf dem Kopf ähnelte er mehr einem Polizisten als dem mächtigsten Mann im Reich, wie ihn der Großmufti nannte. Mir war dieser schmale, blasse Mann mit der runden Brille unheimlich; den Führer mochte ich lieber.

8.
    I ch erinnere mich noch gut an meine Freude, als ich zufällig Hermann wiedertraf. Eines Abends wartete er vor dem Eingang des Hotels auf Elsa, die ich ebenfalls schon lange nicht mehr gesehen hatte. Durch die Glastür erkannte ich ihn, obwohl er seinen Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ähnelte einem Gangster in den amerikanischen Filmen. Als er mich sah, warf er die Zigarette fort und begrüßte mich wie einen Freund.
    »Es ist kalt geworden«, sagte er, »besser, Sie würden sich etwas überziehen, wenn Sie hier herauskommen.«
    Ich versicherte ihm, dass mir die Kälte nichts ausmache, obwohl das nicht stimmte. In Wahrheit wollte ich einfach nicht in die Suite hinaufgehen, um mir wärmere Kleidung zu holen, denn es war

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