Ein weißes Land
Erinnerungen an die Heimat wach, ich ließ mich auf dem Sitzkissen zurückfallen und lauschte schläfrig den Gesprächen. Der Imam wich jeder politischen Diskussion aus. Er signalisierte zwar Zustimmung, doch schwieg hartnäckig zu allem, was dem Großmufti so wichtig und dringlich erschien. Stattdessen rührte er in seiner Teetasse, lächelte und nickte stumm. Seine Gesichtszüge waren weich und zugleich undurchdringlich, niemand hätte sagen können, was wirklich in ihm vorging.
Er beschrieb die Gemeinde hier in Berlin als kleinen Hafen für viele in den Kriegswirren versprengte Muslime aus ganz Europa. Es gab Türken, Bosnier, Polen und andere, die in der Fremde einen Halt suchten und sich in der kleinen Moschee einfanden, um im Gebet und bei der Predigt, selbst wenn sie normalerweise auf Deutsch gehalten wurde, etwas von dem wiederzufinden, was sie verloren hatten.
Er erzählte von den Beziehungen, die er zum Großmufti von Polen unterhielt. Dort, behauptete er, gab es eine muslimische Minderheit. Die meisten von ihnen stammten von den Tataren ab. Besonders gern gingen sie zum Militär, daher gab es in der polnischen Armee, vor allem in der Kavallerie, ganze muslimische Einheiten mit eigens für sie abgestellten Imamen. Die Gebetszeiten wurden eingehalten und bei der Verpflegung verzichtete man auf Schweinefleisch. Das Thema interessierte den Großmufti, aufmerksam hörte er zu und so erfuhren wir auch noch von Iskender Sulkiewicz, einem Muslim, der zum Retter Marschall Pilsudskys vor russischer Gefangenschaft und in Polen nachgerade ein Nationalheld wurde.
Der Großmufti bemerkte dazu, er sei lange schon überzeugt davon, dass auch die Deutschen die Hilfe der ihnen wohlgesonnenen Minderheiten in ihrem riesigen Reich benötigten, um der Vielzahl der Feinde Herr zu werden. Er arbeite daran, und es sei gerade jetzt eine Aufgabe von größter Wichtigkeit, diesen Gedanken in den Köpfen der Verantwortlichen zu verankern. Die polnischen Einheiten seien geradezu ein Vorbild für die Organisation solcher Legionen. Aber, seufzte er und blickte vorwurfsvoll in die Runde, unter den Muslimen im Reichsgebiet seien nur die wenigsten bereit, auch wirklich zu den Waffen zu greifen. Was er mit einer »Deutsch-Arabischen Legion« schaffen wollte, komme in Wahrheit über eine »Lehrabteilung«, als die es die Deutschen bis heute bezeichneten, nicht hinaus; zu viele Studenten, zu wenig Soldaten.
Nachdenklich lehnte er sich zurück und beantwortete nur noch nebenher und mit sich allmählich verdüsternder Miene die höflichen Fragen des Imams der Berliner Gemeinde nach der Situation in Palästina.
Der Raum war vorschriftsmäßig verdunkelt, dennoch überprüfte ein Moscheediener noch einmal die Vorhänge. Man war hier sehr darauf bedacht, keinerlei Fehler zu machen, die den deutschen Anwohnern auffallen und Anlass zur Denunziation hätten geben können. Als der junge Mann die Lampen begutachtete, sprach er ein Königswort aus, das mich in Erstaunen versetzte. Es beschrieb eine besondere Konstruktion zu Luftschutzzwecken: die Bienenkorbglimmlampe . In ihrem fahlen Licht und mit halb geschlossenen Augen sah ich schemenhaft all die turbantragenden Gestalten um mich beim Essen, fühlte mich zurückversetzt in die Heimat und zugleich mit ihnen allen in diesem abgeschotteten Raum eingesperrt.
Nicht lange danach, zurück in Zehlendorf, bekam mein Herr Besuch vom Reichsführer SS Himmler. Es herrschte Aufregung auf allen Etagen, die Villa war perfekt aufgeräumt und das Essen stand bereit, obwohl man wusste, dass der mächtige Mann eher bescheiden auftrat, sich stets soldatisch streng verhielt und den Großmufti vor allem als Gesprächspartner schätzte. Daher war der Aufwand unnötig gewesen, denn auch diesmal gab der Reichsführer Mantel und Mütze ab und setzte sich in einen der Sessel des Salons, um einfach nur Tee zu trinken. Ich hatte kaum Gelegenheit, einen Blick auf ihn zu werfen. Das Gespräch sollte in zwangloser Atmosphäre stattfinden, und so wurden fast alle Mitglieder des Gefolges ausgesperrt. Abu Hashim durfte den Tee bringen, ich beneidete ihn darum. Im Obergeschoss schlich ich auf den Treppenabsatz hinaus, um zu hören, was gesprochen wurde.
Der Reichsführer war ein höflicher Mann, er versäumte keine Gelegenheit, dem Großmufti durch den Übersetzer seinen Respekt auszudrücken. Seine kalte, zurückhaltende Art zu reden, die so gut zu seinem Auftreten passte, steigerte noch die Wirkung dieser unbeholfen wirkenden
Weitere Kostenlose Bücher