Ein weißes Land
schlugen gegen die Stuhllehnen. Er schob die verrutschte Armbinde zurecht, würdigte niemanden eines weiteren Blickes und ging.
Als überraschend der Vollalarm einsetzte, hoben alle die Köpfe und es dauerte einige Zeit, bis Bewegung in die Leute kam. Es war, als versuchten sie dem durch alle Straßen und Gassen rasenden, in jede Kammer dringenden Heulton eine verborgene Information abzulauschen. Dann erhoben sich die ersten und verließen die Kneipe.
»Jetzt werden wir ein nasses Handtuch brauchen«, sagte Hermann und sah Elsa dabei zu, wie sie sich hastig die Schuhe anzog.
Draußen verharrte ich kurz vor Erstaunen über die vielen Menschen, die auf dem Alexanderplatz zusammenliefen. Dergleichen hatte ich noch nicht gesehen, und ich frage mich bis heute, woher sie trotz all der Alarme im vergangenen Jahr, diesmal wussten, dass es besonders schlimm werden würde. Ich erinnere mich an ein rotes Licht, flackernd wie bengalisches Feuer, das über die Fensterwaben der Fassaden emporkroch, als wolle es dem Platz entfliehen, doch ich weiß nicht, woher es kam.
Ich orientierte mich an Hermann und Elsa, die auf einen Betonbogen zuliefen, in dem die Menschen verschwanden. Eine Rampe führte abwärts und schon in der Schleuse begann ich vor Enge und Wärme zu schnaufen. Ich folgte dem Menschenstrom, ließ mich schieben und stoßen, bis wir einen riesigen unterirdischen Saal erreicht hatten, der sich so rasch füllte, dass niemand wusste, wohin. Jeder blieb stehen, wo er war. Mütter zogen ihre Kinder an sich, alte Männer und Frauen klammerten sich aneinander.
»Durchtreten, durchtreten!«, brüllte ein Bunkerwart durch die Schleuse nach unten.
Doch niemand reagierte darauf, die Nachdrängenden schoben uns weiter in den Saal hinein, von dem nach den Seiten viele kleinere Räume abgingen, in die Familien vorsorglich für die ganze Nacht eingezogen waren. An den Wänden waren übereinander Liegen befestigt, dicht gedrängt kauerten Kinder darauf und blickten angsterfüllt zu uns heraus, als wären wir der Feind. Oben und hier unten wurden die eisernen Bunkertüren geschlossen und dahinter verschwanden die Schreie derer, die nicht hereingelassen wurden in dieses gewaltige Verlies.
Meine Brust zog sich zusammen von der feuchten Wärme der vielen Leiber, im Hüsteln und Wimmern, im Seufzen und Flüstern um mich, in jedem umherirrenden Blick lag gespannte Erwartung. Gelbes Licht klebte zitternd an den hohen Bunkerwänden. Quälend langsam verging die Zeit, bis der Angriff endlich begann, und ich glaube, jeder sah die feuerspeienden Flaktürme vor sich, wie sie den dräuenden Luftraum durchlöcherten, ihn zerspringen und auf uns niederregnen ließen. Dumpf ertönten die ersten Detonationen.
»Heute ist die Innenstadt dran«, sagte jemand und aus mehreren Ecken kam Zustimmung.
Eine dichte Folge von Einschlägen wollte kein Ende nehmen, doch sie kamen nicht näher. Schließlich setzten sie aus, allgemeines Aufatmen erfüllte den Raum und ging sofort in Geschrei über, als die Wucht einer einzelnen Explosion den gesamten Bunker schwanken ließ wie eine Barke im Sturm. Der Boden hob sich unter mir, ich breitete die Arme aus, hielt mich an den Nächststehenden fest. Das Licht fiel von den Wänden, kurz verschlang uns die Dunkelheit, dann flackerten die Lampen wieder auf und Hunderte von Augen richteten sich auf die Bunkerdecke. Es herrschte Stille, bevor die Kinder zu schreien und zu weinen begannen.
»Ein Irrläufer«, rief ein Bunkerwart und dieses Königswort beruhigte uns alle.
Zwei Angriffswellen und fünf Stunden später, stiegen wir aus dem Bunker ins Freie, den Anblick fürchtend, der uns erwarten würde. Ein unheimlicher Schein waberte am Himmel dicht über den Dächern. In staubüberzogene Decken gehüllte Menschen irrten in den leeren Straßen umher. Auf dem Platz hatte es tatsächlich nur wenige Einschläge von Irrläufern gegeben, doch wir sahen eine ausgebrannte Straßenbahn, aus den Gleisen gerissen und umhergeworfen, das Pflaster war von Trümmern und Glas übersät. Die dunkle Stadt wurde von zahllosen Bränden erhellt, Rauch und ein giftig-scharfer Geruch lagen in der Luft.
Kein Gedanke war da an einen sicherlich bald bevorstehenden nächsten Angriff, nur tiefe Erleichterung erfüllte uns, dass es für dieses Mal vorüber war. Sie machte uns müde und schweigsam. Hermann und Elsa gingen alsbald ihrer Wege, wir fanden zum Abschied nicht viele Worte, denn in dieser Nacht hätten sie falsch geklungen.
Meinen
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