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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Ausweis in der Hand, eilte ich zum Hotel zurück, gepeinigt von dem Gedanken, es könnte getroffen worden sein. Der Platz auf der Türschwelle erschien mir jetzt wie der sicherste Ort der Welt, und die Ordnung wiederhergestellt, wäre ich erst einmal dort.

9.
    U nübersehbar hatte uns das Kriegsglück verlassen: Durch die Geschehnisse an der Wolga und vorher bereits in Nordafrika war die Befreiung Iraks in weite Ferne gerückt. All das erfuhren wir aus dem Radio und es veränderte schlagartig die allgemeine Stimmung. Selbst der Großmufti schien nun besorgt. Vor seinem schrankartigen Gerät mit geheimnisvoll leuchtendem Magischem Auge sitzend, lauschte das gesamte Gefolge den Gräuellügen der Alliierten und den Reden des Reichspropagandaministers im Sportpalast. Im Osten hatten nun die großen Abwehrschlachten begonnen, denn die russischen Menschenhorden bedrohten wie einst die Mongolen Europa. Hier in Deutschland aber sollte mobilgemacht werden für einen Volkskrieg, den totalen Krieg, der letztlich jedoch entschieden werden würde durch die neuen Waffen des Führers, die dieser irgendwo schmieden ließ, vielleicht, dachte ich, in den Stollengängen schroffer Berge oder in geheimen Labyrinthen unter den Städten. Ich sah glühende Essen, hörte das Kling-Klang vieler Schmiedehämmer, und hoffte auf die oft beschworene Kraft des deutschen Volkes, sein selbstgewähltes Reich zu verteidigen.
    »Der Schandvertrag von Versailles«, sagte der Großmufti einmal in die Runde, »hat Deutschland zu einem Paria gemacht. Darum hat es sich an die Seite der Araber, der ewigen Parias, gestellt. Möge Gott verhindern, dass es diesen Krieg verliert, denn mit ihm verlieren wir Palästina an die Juden.«
    In diesem Frühjahr wurden die nächtlichen Terrorangriffe häufiger und bald schon kamen die Bomberflotten auch am Tage. Ich wusste ja, auf welche Weise die deutschen Familien wie Ratten in die Tiefbunker gedrängt litten, und der Gedanke, dass jemand weit oben im Luftraum nur einen Hebel umlegte, um Tod und Verderben herabregnen zu lassen und dann feige zu verschwinden, machte mich wütend.
    Einmal störte ich Rasul, Bakr und Haddad in der Villa versehentlich bei der Abrechnung unserer Einnahmen durch die SS und das Auswärtige Amt. Ich stand plötzlich im Raum, die Sekretäre fühlten sich gestört und Haddad meinte, jetzt müssten sie wieder von vorn anfangen. Ich betrachtete die vielen Papiere auf dem Schreibtisch und wieder einmal regte sich meine Verbrecherseele. Ich konnte nichts dagegen tun, es war, als würde Malik in mir erwachen. Und kurz zweifelte ich: War es möglich, dass diese Männer sich einfach nur bereicherten? Gern hätte ich gewusst, wie viel Geld sie da eigentlich zählten. Doch es war klar, dass ich, Fadil und die anderen Gehilfen nie etwas davon sehen würden.
    »Du schaust wie ein Dieb«, sagte Rasul grinsend. »Aber das hier ist nicht, was du denkst, sondern Politik.«
    Später schrieb ich es der schlechten Stimmung zu, in der wir uns befanden, doch im Augenblick, da ich leise die Tür hinter mir schloss, war ich verwirrt und niedergeschlagen. Der Zweifel blieb nicht in meinem Kopf, sondern kroch mir hinunter in die Brust, um sie zusammenzupressen und mir den Atem zu nehmen. Ich durfte auf diese Art nicht zweifeln, doch ein Gedanke ist ebenso schwer loszuwerden wie eine hungrige Mücke.
    Der Großmufti war kein Mann spontaner Einfälle. Sein Tagesablauf war streng geregelt, seine vielen Aufgaben hier im Herzen des Reiches ließen kaum Zeit für Muße. Umso überraschter war ich von seinem Wunsch, mit mir auf den kleinen See hinauszufahren für ein paar Worte unter vier Augen. Trotz meines wiederholten Fehlverhaltens lebte ich immer noch in dem Gefühl, auf heimliche Weise bevorzugt zu werden. So etwa hatte ich nie erfahren, ob Fadil meinen zweiten Spaziergang im abendlichen Berlin bemerkt und dem Großmufti gemeldet hatte. Ich ging davon aus, dass es so war, doch empfing ich dafür nie eine Zurechtweisung oder gar Bestrafung. Es war, als würde mein Herr etwas mit mir vorhaben, mir wie einem jungen Hund die längere Leine lassen.
    An jenem Nachmittag im Frühsommer, als die bereits sinkende Sonne die kleinen Inseln aus Entengrütze ebenso wie das herabgefallene Laub an den Ufern des Waldsees leuchten und in allen Ecken des Gartens Spinnwebfäden aufglänzen ließ, wurde mir dieses Gefühl endgültig zur Gewissheit, denn erstmals lieferte sich der Großmufti mir voll und ganz aus, wenn auch nur symbolisch

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