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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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eine Pause, dann kam er zum Kern der Sache. »Ich glaube, es ist Zeit für eine Entscheidung. Damit meine ich, du solltest hier nicht länger warten, ich brauche niemanden mehr, der meine Tür bewacht. Du solltest kämpfen, dich bewähren in dieser ungeheuer wichtigen Schlacht.«
    Mein Herzschlag setzte kurz aus; das war es, worauf ich so lange gewartet hatte. Mein Herr gab mir ein Zeichen, und ich ruderte weiter. Gemächlich bewegten wir uns über den See, näherten uns der Brücke. Doch ich kam aus dem Takt und so geriet das Boot ins Schwanken. Verzweifelt bemühte ich mich, es wieder unter Kontrolle zu bringen, aber es wurde nur schlimmer. Der Großmufti hielt sich mit beiden Händen fest, sagte nichts, sondern beobachtete nur, was ich als Nächstes tun würde. Ich hörte auf zu rudern und wartete ab, dann versuchte ich es erneut. Diesmal gelang es mir besser, doch erforderte es Konzentration. Ich blickte nicht zu meinem Herrn, denn es schien mir wie eine Herabwürdigung, ihn in diese Lage zu bringen; aus dem Augenwinkel sah ich, dass sein Turban verrutscht war.
    Eine der Frauen auf der Brücke weinte und wurde von ihrer Begleiterin getröstet. Der Wind zerzauste das graue Haar beider.
    »Vielleicht ist ihr Sohn gefallen«, sagte der Großmufti leise. »Es ist eine schlimme Zeit.«
    Ich erfuhr, dass es im Osten noch viel mehr und weit größere dieser Lager gab. Wenn der Sieg auf dem Schlachtfeld nicht zu erringen war, dann musste alles darangesetzt werden, so viele Feinde wie möglich zu vernichten, um ihre Macht zu schwächen.
    Während ich weiter ruderte, dachte ich an das Schutzlager zurück und daran, dass ich dort etwas entdeckt hatte. Ich wusste nicht, ob es das war, was mich ebenso aufgeregt wie kraftlos sein ließ, oder ob ich in diesem Moment nicht einfach nur zweifelte. Ich erinnerte mich an die Straße nach Aleppo, von der mein Vater mir einst erzählt hatte, blickte noch einmal zu der weinenden Frau über uns und besiegte schließlich, was nichts anderes als die Schwäche eines unreifen Jungen sein konnte.
    Der Großmufti blickte mich fragend an, legte dabei den Kopf leicht schräg.
    »Bist du bereit? Du kannst es mir später sagen, wenn du noch darüber nachdenken willst. Aber«, er streckte seine Beine aus, »Treue ist jetzt alles. Ich bin ein schwacher Mann, habe nie auf meinen Körper vertraut. Doch stehe ich an der Seite der Starken, was mich selbst stark sein lässt. Du aber hast Kraft«, lächelte er, »beinahe zu viel, wie ich längst weiß. Du kannst kämpfen, und ich beneide dich darum. Deinen Freund aber musst du mitnehmen, denn ich habe auch für ihn keine Verwendung mehr. Es war ein Gefallen, den ich seinem Vater tat als Dank für die Unterstützung, die er mir in Bagdad gewährte. Nun aber musst du die Verantwortung für seinen Sohn übernehmen, denn die Zukunft hier ist ungewiss. Ihr seid wie streitsüchtige Brüder«, sagte er schmunzelnd. »Aber ihr könnt einander auch beschützen. – Lass uns jetzt zurückfahren.«
    Wieder begann das Boot zu schwanken, doch ich brachte ihn vorsichtig zum Steg, wo er bereits von seiner Frau erwartet wurde. Haddad half dem Großmufti aus dem Boot und wollte ihn gleich ins Haus bringen, dieser jedoch wandte sich zu mir und streckte den Arm aus.
    »Komm«, sagte er, »ich will dir etwas zeigen.«
    Ich folgte ihm an der geschwungenen Terrassentreppe vorbei auf den Pfad, der um die Villa führte. An der Hausmauer, die tagsüber von der Sonne beschienen wurde, hockte sich mein Herr nieder und wies auf mehrere braune, daumennagelgroße Käfer, die regungslos auf dem Stein saßen. Ich sah genauer hin und erkannte, dass zwei von ihnen Löcher hatten.
    »Sind sie tot?«, fragte ich.
    »Zwei ja, aber achte auf diesen«, erwiderte der Großmufti und zeigte auf einen, der sich bewegte.
    Auch der Panzer dieses Käfers war beschädigt, doch wo die anderen ein Loch aufwiesen, bewegte sich hier ein Insektenkopf von innen nach außen. Es dauerte lange, dann befreite sich eine Libelle aus der leblosen Hülle. Sie war in der Mitte geknickt und schien nass zu sein, langsam faltete sie ihre Flügel auf und streckte ihren Leib. Schließlich saß sie auf der toten Käferhülle und ließ sich vom Wind trocknen, bis ihre Flügel zu vibrieren begannen.
    »Nun ist sie bereit«, sagte der Großmufti, tippte sie an und das Insekt flog davon. »Bereit für die Jagd.«
    Er erhob sich und gemeinsam gingen wir in die Villa, wo das Abendessen auf uns wartete.
    Im Hotel begegnete ich

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