Ein weißes Land
einschaltete und auf volle Lautstärke drehte. Immer dann wurde es ruhig im Hof, jeder wollte die Neuigkeiten hören. Abwehrschlacht war eines der am häufigsten gebrauchten Worte, überall entlang der Front entwickelten sich Abwehrschlachten, wurden Einheiten der Roten Armee in Taschen eingeschlossen und ausgelöscht, wurde der Feind trotz erdrückender Übermacht vernichtend geschlagen.
Es war später Abend, als der Doktor kam und meinen Verband überprüfte.
»Frierst du nicht?«
Ich fror nicht, im Gegenteil, ich genoss die kühle Luft und den Herbstgeruch, am liebsten hätte ich an diesem Platz gewohnt. Ich wunderte mich über die Aufmerksamkeit des Doktors, der den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war und nun tatsächlich hier neben mir seine Zigarette rauchte.
»Erzähl mir, woran du dich erinnerst«, sagte er. »Erzähl mir irgendetwas.«
Schleppend begann ich, suchte die Worte zusammen, doch mit jeder Minute löste sich meine Zunge mehr. Ein einziges Mal war ich in jenem Dorf gewesen, aus dem mein Vater stammte. Es lag inmitten sanfter, kahler Hügel, und es gab dort auch einen Fluss, der damals aber eher ein Rinnsal war. Ich entsann mich einer Gruppe von Jungen auf einer von hohem Gras bewachsenen Ebene. Da ich ein Fremder war, schnitten sie mich. Doch ich ließ sie nicht aus den Augen, schlich durch das Gras, duckte mich und blinzelte durch die langen Halme zu ihnen hinüber. Immer, wenn sie sich weiterbewegten, folgte ich ihnen vorsichtig. Ich wollte mich nicht verstecken, nur bei ihnen sein, ohne ihre Einwilligung. Sie kamen an einen Bach, über den eine Knüppelbrücke führte. Dort saß ein Hirte und kämmte mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen das Fell einer Ziege. Die Jungen ignorierten ihn, rannten in die Ziegenherde hinein und trieben die Tiere auseinander, bis der Hirte fluchend aufsprang.
Die Kinder lachten und liefen davon, plötzlich aber wiesen zwei von ihnen in Richtung der Hügel und alle anderen blickten dorthin. Ich erhob mich, um zu sehen, was sie sahen. Einige Männer in hellen, schmutzigen Gewändern kamen durch das Gras, der Klang ihrer speckigen Handtrommeln drang heran. Sie trugen Beutel über den Schultern und ihre Mützen und ausgefransten Kopftücher verdeckten kaum die Haare. Erst hielt ich sie für wandernde Derwische, doch winkten sie die Jungen schon von fern zu sich und ließen sie einen Halbkreis bilden. Ich gesellte mich dazu. Die Männer waren Gaukler auf ihrem Weg von Dorf zu Dorf.
Besonders deutlich erinnerte ich mich an den Steinfresser. Ich stand vor ihm, betrachtete seinen verfilzten Bart und die kleinen Augen in seinem wettergegerbten Gesicht. Der Gaukler gab mir Anweisung und ich suchte einen Stein. Er musste die richtige Größe haben, damit er in den Mund passte, und für jeden Stein hatte man zu bezahlen. Zum Glück waren die Jungen vorbereitet und gaben ihm Geld. Der Gaukler nahm den Stein und schob ihn sich zwischen die Zähne, ließ ihn mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten rutschen und würgte ihn hinunter. Die Kinder suchten nach immer weiteren Steinen und der Gaukler schluckte sie alle. Ich betrachtete ihn entgeistert und fühlte den Schmerz in Hals und Speiseröhre. Der Steinfresser jedoch zeigte nur lächelnd seine schwarz umrandeten Zähne, klopfte sich mit der Faust seitlich an den Bauch und wir alle hörten das Rumpeln. Mehrmals forderte ich ihn auf, es wieder zu tun, und schließlich durfte ich sogar selbst dagegendrücken.
In der folgenden Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Wieder ging ich über die Ebene mit dem hohen Gras, meine Beine waren leicht und an der Brücke schwebte ich fast. Alles, was ich wahrnahm, war das Rauschen des Wassers und der Wind an meinen Händen. Es herrschte weder Tag noch Nacht, doch war der Himmel dunkel, als läge ein riesiger Schatten darauf. Ich glitt durch das Gras und kein einziger Halm berührte mich, meine leichten Beine ließen mich taumeln. Da spürte ich etwas Unangenehmes im Bauch. Anfangs achtete ich nicht darauf, doch es wurde zu einem immer größeren Schmerz. Schließlich knöpfte ich mir das Hemd auf und aus dem Stoffspalt fielen schwarze Steine ins Gras. Sie schienen sich zu bewegen, aber das konnte ich nicht mehr genau sehen, denn ich ruderte bereits mit den Armen und stieg höher. Das Gras unter mir wurde zu einer dunklen Masse, die Hügel kippten fort. Gerade noch sah ich die Brücke, dann drang ich ein in das Reich der Vögel. Schwarze Mauersegler streiften meine steinharten
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