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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Schultern, als wäre ich ein fliegendes Haus, und ich hatte Angst vor einem Adler. Da wurde es strahlend hell über mir, ich schaute um mich und sah ringsum die Sterne. Es waren verbeulte Zitronen. Ich versuchte ihnen nicht zu nahe zu kommen und fuchtelte mit den Armen. Jetzt wollte ich zur Erde zurück, denn was würde geschehen, wenn ich immer weiter aufstieg? Überall waren die gelben Klumpensterne, und je höher ich kam, desto dichter standen sie. Vom Rudern atmete ich schwer und wachte schließlich auf.
    »Seltsam, dass du gerade jetzt daran denkst – bei all den Bauchschüssen«, sagte Dr. Stein versonnen.
    Dann ließ er mich von Bagdad erzählen, der Doktor wollte alles über die Stadt wissen, wollte eintauchen in die Gassen, in das Gewimmel des Shorjah-Marktes. Ich gab mein Bestes, der kühle Nachtwind ließ meine Stimme zittern und doch gelang es mir, ihm einen Eindruck zu geben vom Leben in der fernen Stadt. Während ich sprach, fiel mir auf, wie nah mir die Stadt war, selbst hier, in diesem Land, das offiziell zwar zum Reich gehörte, eigentlich aber fremdes Gebiet war. Als ich dem Doktor von Malik und seiner Bande erzählte, war mir, als hätte ich sie eben erst verlassen. Schließlich berichtete ich auch von jenem Pogrom, den ich miterlebt hatte.
    Der Doktor nickte nur und entsann sich einer deutschen Operation in Syrien, von der er durch Zufall im Kollegenkreis erfahren hatte. Auch dort waren Deutsche unterwegs gewesen, um nach Möglichkeiten zu suchen, die arabischen Massen zu mobilisieren. Sie nannten das Unternehmen »Winnetou«. Ich konnte mit diesem Wort nichts anfangen und fragte nach der Bedeutung. Und wieder hörte ich von jenem Schriftsteller namens Karl May, der offensichtlich viel bekannter war als Goethe.
    »Ich habe nie etwas von ihm gelesen«, sagte ich dem Doktor.
    Dr. Schultheiss kam auf die Veranda heraus, seufzte und nahm sich eine der Zigaretten, die Stein ihm anbot.
    »Fünf sind eingegangen in den letzten drei Stunden«, sagte er. »So war’s noch nie, was ist da los?«
    Er war ein stämmiger Mann mit früh ergrautem Haar und einem kurzen, weißen Bart, der ein unwirklich junges Gesicht umrahmte. Jetzt, im Mondlicht, das die zerrissenen Wolken durchstrahlte, konnte man ihn für einen Sechzigjährigen halten.
    Stein blickte versonnen und antwortete erst nach Minuten.
    »Jetzt kommen sie zurück«, sagte er, »alle.«
    Er machte Anstalten, sich zu erheben. Ich bemühte mich, ihn davon zu überzeugen, dass es besser für mich sei, draußen zu bleiben, und behauptete, das Geschrei und Stöhnen der Verletzten würde mich nur noch kränker machen. Doch der Doktor ließ sich nicht erweichen.
    »Wenn du hierbleibst, wirst du erfrieren. Du hast es doch schon fast hinter dir, willst du jetzt noch sterben?«
    »Wer ist der eigentlich?«, fragte Schultheiss.
    »Warschau«, erwiderte Stein und wandte sich zu mir. »Wer war der Anführer? Euer Oberster, verstehst du?«
    Ich antwortete: »Dirlewanger.«
    »Oh ja, man hat einiges von ihm gehört. Bin ihm sogar schon begegnet. Ein Tierarzt – oder Jurist?«
    »Ich weiß es nicht. Tiere hat er gern.«

3.
    A ls mich Schultheiss auf das Bett drückte und mit einer Hand-
bewegung wissen ließ, ich solle dort bleiben, ahnte ich bereits, welch lange Nacht mir bevorstand. Gerne hätte ich Dr. Stein jetzt erzählt, woran ich mich, deutlicher, als mir lieb war, erinnerte, hätte ihm alle Einzelheiten ausgemalt, mit denen ich nun allein blieb in der Dunkelheit, umgeben vom irren Gesang eines der unsichtbaren Soldaten im Raum, der immer wieder »Der Mond ist aufgegangen« anstimmte, jedes Mal den Text nicht zusammenbringen konnte, sich verschluckte, hustete und es inbrünstig aufs Neue versuchte, als hinge sein Leben daran.
    Ich redete mir ein, meine Erinnerungen sammeln und ordnen zu müssen, damit ich sie dem Doktor morgen auf der Veranda mitteilen konnte. Mein Rücken schmerzte, unablässig versuchte ich, eine bessere Liegeposition zu finden, und das Bett quietschte dabei.
    »Ruhig, verdammt«, ertönte eine Stimme. »Wenn du schon im Bett liegen kannst, dann schlaf auch.«
    Alle im Raum waren wach, jeder zählte die Stunden und hoffte, irgendwann dabei einzudämmern. Ich fühlte mich verloren, hatte keine Hoffnung, jemals wieder heimzukommen, und so rief ich in mir den Gedanken an etwas Vertrautes wach; meine letzte Begegnung mit dem Großmufti, der tatsächlich ins Ausbildungslager kam, um seine muslimischen Einheiten zu sehen und ihnen Glück zu

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