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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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anstellen sollte. Er sagte, ihm gefiele unser bummelnder Gang nicht, und schickte uns hinüber ins M-Lager zum Sockensuchen . Ein solcher Befehl war sinnlos, doch gerade darum musste man ihn unbedingt befolgen, das gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen dort. Tat man es nicht, konnte aus dieser kleinen Schikane rasch eine große Quälerei werden.
    Hastig gingen wir also die paar hundert Meter, passierten das Hauptgebäude und die Unterkünfte der Ukrainer. Es war bereits dunkel und im Stillen verfluchten wir den Oberscharführer dafür, dass er uns zwang, etwas zu tun, was wir sonst stets vermieden. In Sichtweite der fahl beleuchteten Lagerstraße trafen wir auf eine Gruppe von Torfstechern und befahlen ihnen, uns von irgendwoher zwei Paar brauchbare Socken zu bringen. Die Männer blickten ängstlich, wussten nicht recht, ob wir das ernst meinten, doch sie gehorchten sofort. Ich schaute argwöhnisch umher, am Haupteingang kläfften Hunde, der rußgeschwärzte Schornstein der Zuckerfabrik ragte bedrohlich in den dunklen Himmel, und wenn die Gassen zwischen den Werkstattgebäuden auch leer sein mochten, so war das Lager doch wie immer von geheimem Leben erfüllt, wie ein ständiges Rascheln lag es in der Luft. Zu viele Menschen lebten hier zusammengepfercht, die alle unauffällig zu bleiben suchten.
    Mit den Socken machten wir uns sogleich auf den Rückweg und gerieten mitten hinein in eine Gruppe betrunkener Ukrainer. Sie waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen gewesen, standen in der Nähe ihrer Baracken, doch bildeten plötzlich einen weiten Ring um uns, als das Hauptgebäude mit den Büros schon in Sichtweite war. Wahrscheinlich hatten sie unsere Schritte gehört und versuchten nun ihr Glück. Eigentlich hatten wir von ihnen nichts zu befürchten, hätten einfach weitergehen und sie ignorieren können, doch bedrohten sie uns auf passive Weise. Viele von ihnen standen halb abgewandt, die Köpfe leicht gesenkt und die Hände vor dem Körper. Wir hörten sie etwas sagen, so leise, dass es kaum zu verstehen war:
    »Arsen, Arsen …«
    Schließlich schlenderte ein glatzköpfiger Riese in den Kreis, blickte nicht zu uns, reckte nur die Arme über den Kopf. Die Ukrainer kamen näher, Fadil blickte sich nervös um.
    »Was sollen wir tun?«, sagte er.
    »Nichts«, erwiderte ich und spürte im nächsten Moment Fadils heftigen Stoß, der mich zwei Schritte nach vorn tun ließ.
    »Ah«, machten die Männer und in Arsen kam Bewegung.
    Noch immer hätte ich einfach gehen können, doch beim Anblick dieses Riesen verwandelte sich meine Beklommenheit plötzlich in Hass, Hass auf diese plumpen Gestalten, die allesamt Überläufer waren, Feinde im Grunde, die in den Kriegsgefangenenlagern der Deutschen ihre Jacken gewendet hatten, Hass auf ihre Dumpfheit und all das Fremde an ihnen. Ich musste mich beherrschen, nicht sofort über den Mann herzufallen. Das wäre mir schlecht bekommen, denn er war mir körperlich weit überlegen.
    In etwa zwei Metern Entfernung begann er mich langsam zu umkreisen. Er stand seitlich zu mir, doch die Hände hatte er noch nicht erhoben. Ich folgte seiner Bewegung und zwang mich zum Nachdenken. Auf einen Schlagabtausch oder gar Ringkampf konnte ich mich nicht einlassen, was ich tat, musste blitzschnell vonstattengehen, ihn überraschen und am besten sofort außer Gefecht setzen. Eine zweite Chance würde ich nicht bekommen, denn dazu war er einfach zu stark. Ich wartete geduldig, drehte mich langsam um mich selbst, sah wieder und wieder den Schornstein vorüberziehen, bis Arsen mich endlich angriff.
    Mit der Linken packte er meinen Kragen und riss mich zu sich. Noch bevor er jedoch die Rechte erhoben hatte, schlossen sich meine Hände um seine Ohren. Ich krallte die Finger in das Fleisch und zwang den Mann langsam, doch unaufhaltsam zu Boden. Anfangs keuchte er nur, dann versuchte er meine Hände zu lösen, schließlich aber schrie er. Langsam begann ich sein linkes Ohr zu drehen, um es ihm endlich, er lag schon fast am Boden, vom Kopf zu reißen. Jetzt erst bemerkte ich das Licht, das auf uns gerichtet war, Arsens Schrei gellte über den Exerzierplatz, die Ukrainer lösten den Ring auf und verteilten sich. Unsichtbar hinter dem Scheinwerferlicht standen die Deutschen und ich hörte deutlich die Stimme Rinkels:
    »Nun fresst euch schon auf, wart doch sonst nicht so zögerlich.«
    Gelächter ertönte, ich warf zu Boden, was ich in der Hand hielt, und wischte das Blut an der Hose ab, doch niemand

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