Ein weißes Land
waren unterbrochen, die Sanitätskonvois standen still. Ich betrachtete die aufgereihten, in Lumpen gehüllten Leiber, die grauen Gesichter der Soldaten, die apathisch in den Himmel starrten und vor sich hin sprachen, als würden sie beten, und wusste, dass der Zusammenbruch nahte. Wie sollten wir dem Druck noch länger standhalten, wenn die Deutschen nicht einmal in der Lage waren, ihre Züge fahren zu lassen, all die vielen Züge, die so wichtig waren in ihrem rasend schnellen Krieg, der nichts gewesen war als ein einziger rastloser Vormarsch mit der Macht von Motoren und Maschinen, eine besinnungslose Bewegung ins Offene, als würden sie alle früheren Eroberungen, jene der Römer und Alexanders, der Goldenen Horde und der Briten in wenigen Monaten übertreffen und auslöschen wollen aus der Geschichte. Geschichte, wie oft hatte ich dieses Wort in den letzten Jahren gehört. Für mich war sie ein unsichtbares Buch, von dem aber jeder Deutsche eines bei sich zu tragen glaubte und wie seinen Besitz behandelte. Mir jedoch dämmerte: Wenn man so viel Gelände in so kurzer Zeit gewinnen und wieder verlieren konnte, dann hatte das Gelände selbst keine Bedeutung mehr.
Ich erhob mich, schlang die Decke fester um mich, ging über die Veranda bis zur kurzen Treppe und stieg vorsichtig die Holzstiegen hinab. Unten schleppte ich mich eine der Gassen zwischen den abgelegten Soldaten entlang. Alle waren bei Bewusstsein und blickten mir erwartungsvoll entgegen. Ich reagierte nicht auf ihre Anrufe und Gesten, wollte nur sehen, was übrig geblieben war von der endlos siegenden deutschen Armee. Die ausgezehrten, von Schmutzflecken und Narben überzogenen Gesichter erinnerten an die unserer unterentwickelten, wilden Feinde.
Der Gedanke, wie ich von hier fortkommen konnte, ließ mich nicht mehr los. Ich muss einen Weg finden, dachte ich, als ich auf die schmutzigen Hände blickte, die Münder verdeckten oder an Stirnen lagen.
Einer der Männer bekam meinen Fuß zu fassen und zog ihn zu sich heran. Ich stolperte und ging in die Hocke.
»Hast du gehört, was passiert ist?«, fragte der Soldat mit jener typischen Vertraulichkeit, die ich nach dem Ausbildungslager kennengelernt hatte.
»Nein, was?«
»Du weißt es nicht?« Der Mann riss die blutunterlaufenen Augen auf.
»Nein, sag schon.«
Der Soldat bewegte die Lippen, blieb aber stumm, wandte plötzlich den Kopf und rief:
»Er weiß es nicht, Leute, er weiß es nicht.«
Niemand antwortete. Er begann an seiner Jacke zu zerren, öffnete die Knöpfe und schob die Hand unter den Aufschlag. Er suchte etwas, doch je länger es dauerte, desto schwächer wurde er.
»Ich zeige es dir«, sagte er leise, »warte, ich zeige es dir. Das kann doch nicht sein.«
»Was?«, versuchte ich es noch einmal.
Unvermittelt zog der Mann seine Hand aus der Jacke und riss mich zu sich hinunter.
»Das lügst du doch, du Saustück, nicht mal jetzt kannst du mich in Ruhe lassen.«
Die Hand des Doktors fuhr dazwischen und löste den Griff des Mannes.
»Er hat wahrscheinlich seit einer Woche nicht geschlafen«, sagte er und half mir auf die Beine. »Du solltest hier nicht herumgehen, manche von denen sind infektiös.«
Er führte mich zur Veranda zurück. Eine Mauer trennte das Lazarett von der Straße und war hinter all den als Splitterschutz aufgestapelten Säcken kaum noch zu sehen. Oben aber saßen Krähen und legten ihre Köpfe schief.
»Und, kannst du dich inzwischen an mehr erinnern?«
»Ja«, erwiderte ich, »immer mehr.«
»Gut, erzähl mir davon, wenn ich wieder hier bin.«
Ich beobachtete ihn und Dr. Schultheiss, den zweiten Lazarettarzt, bei der Arbeit. Sie schritten die Reihen der Schwerverwundeten ab und ließen die Schwestern ihre Jacken aufschneiden. Bei jedem der Männer schauten sie in die Achselhöhle, suchten nach eventuellen Tätowierungen und notierten sich die Blutgruppen. Das größte Problem bestand darin, den Überblick zu behalten. Sie mussten die Verwundeten sortieren und später wiederfinden können. Mit einem Stück Kreide markierte Dr. Schultheiss jeden Einzelnen, auf der Jacke oder Hose zeichnete er entweder ein Kreuz, einen Kreis oder ein Dreieck, manchmal auch eine Kombination aus diesen Symbolen. Viele der Männer lagen auf einfachen Zeltplanen, wenn sie angehoben wurden, schrien sie vor Schmerz, da ihre Körper unter dem eigenen Gewicht wie in einem Sack zusammengestaucht wurden.
Irgendwo im Lazarett gab es ein Radio, das eine der Schwestern mehrmals am Tag
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