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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Luft tat mir wohl, für kurze Zeit vergaß ich die fiebrige Hitze.
    »Sieht aus, als hättest du den Kopf in einen Ofen gesteckt«, sagte der Doktor und betupfte meine Stirn. »Hättest ihn einziehen sollen.«
    Ich wollte sprechen, doch ein Hustenanfall unterbrach mich. Ich wusste, der Doktor kannte mehr solcher Geschichten als jeder andere; es war etwas Väterliches an ihm, das sicher viele dazu brachte, sich ihm anzuvertrauen. Aber ich konnte nicht sprechen, es gelang mir nicht, auch nur ein Wort hervorzubringen, jetzt, da ich Gelegenheit dazu hatte. Wo sollte ich beginnen, wenn ich mich selbst schon nicht mehr deutlich an den Anfang erinnern konnte?
    Der Doktor hatte sich erhoben und war zum Fenster gegangen. Er brummte unwillig und blickte auf die Straße hinaus. Ich befühlte meinen frischen Verband. Einer der Ärzte platzte in die stille Aula, gefolgt von Katharina. Es gab mehrere akute Fälle, zu denen sie den Doktor rufen wollten, dieser jedoch machte eine abwehrende Handbewegung und schaute weiter zum Fenster hinaus. Sein Kollege schwieg verwundert, sog nervös an seiner Zigarette und machte dann kehrt. Katharina versuchte es noch einmal, doch anstatt zu reagieren, rief der Doktor mich zu sich.
    Wir standen nebeneinander am Fenster und Stein wies auf einen rundlichen Geistlichen, der unten auf der Straße mit dem Personal zu verhandeln schien.
    »Das ist der Priester«, sagte er. »Endlich haben sie ihn gefunden, wahrscheinlich hatte er sich gut versteckt. Ich musste ihn rufen lassen, denn die Leute sterben nicht gern ohne Beistand.« Er stieß die Luft hörbar durch die Nase aus. »Wir haben es anders gelernt. Aber jetzt kommen sie alle, alle zurück. Europa versinkt wieder im Aberglauben und wird von den Horden aus dem Osten überrannt. Es war ein Traum von etwas Neuem, von einer gereinigten Kultur, von Größe, Strenge und Ordnung in einer zerlumpten, verlausten Welt. Was haben wir denn vorgefunden? In einer eiskalten Nacht sah ich tieffliegende russische Flugzeuge, unter ihren Tragflächen waren merkwürdige Bündel befestigt. In jedem steckte ein Mensch, ein Partisan. So brachten sie die Leute an die Front. Ich glaube, es waren mit Stroh ausgestopfte Leinensäcke, reine Glückssache, darin nicht zu erfrieren. Manchmal fielen die Leichen einfach herab, wenn die Flugzeuge vorbeiflogen. Es war ihnen egal, ob ihre Leute das Ziel lebend erreichten. Das ist unser Gegner, so musste er sein, um uns besiegen zu können. Wir kämpfen gegen Sklaven, die mit der Peitsche vorangetrieben werden. Dagegen haben wir kein Mittel. Verstehst du, trotz all ihrer Niederlagen, all der Toten: Diese Menschen fürchten ihre eigenen Kommandeure und Politruks mehr als uns. Das ist die unvorstellbare Macht der Sklaven, so erniedrigt, wie sie sind, so unaufhaltsam laufen sie auch ins Feuer.« Der Doktor legte die Hand ans Kinn. »Wir haben das unterschätzt, wir konnten mit dieser Primitivität nicht rechnen. Wir sind Opfer unserer Kultur und Zivilisation. Ein solcher Mensch aber trotzt der Kälte ebenso wie der Angst, für ein Stück Brot und ein Glas Tee wirft er sich mit Hurrrää in den Tod.«
    Der Priester war inzwischen im Schulgebäude verschwunden.
    »Wird man mich wiedererkennen?«, stieß ich leise hervor.
    »Was sagst du?«
    Wieder flog die Tür auf, Katharina sagte, der Geistliche wünsche unbedingt den Doktor zu sprechen. Sie warf einen mitleidvollen Blick auf mich und wandte sich rasch ab.
    »Wird man mich wiedererkennen«, wiederholte ich, »später einmal?«
    Der Doktor war im Begriff, der Krankenschwester zu folgen, verharrte dann, schien, den Blick gesenkt, nachzudenken, und hob dann den Kopf. Ohne mich anzuschauen sagte er:
    »Wer dich wirklich kannte, wird dich auch wiedererkennen. Hier aber solltest du vorerst froh darüber sein, dass es schwierig sein wird.«
    Weit ausschreitend verließ er den Raum. Mich beruhigte diese Antwort nicht.
    Zwei Wochen später hieß es, die Vorweihnachtszeit habe begonnen. Ich schnappte es auf und begriff sogleich, dass dies für Dr. Stein von Bedeutung war. Er lockerte sein Regiment, ließ Patienten, deren Zustand sich allmählich besserte, sogar eine Art Gemeinschaftsraum im Korridor des ersten Stocks einrichten. Hier spielten sie Skat und konnten sich laut unterhalten. Nur wenn die Schwestern vorbeikamen, verstummten alle und warfen ihnen lüsterne Blicke nach.
    Ich trug noch immer den Kopfverband, weshalb mich die anderen müde verspotteten. Inzwischen hatte ich mich an das

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