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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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schlitzäugigen Usbeken, wir verständigten uns mithilfe arabischer Sprachbrocken, es gelang uns jedoch nicht, ein wirkliches Gespräch zu führen.
    Vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei, von einer Schneeschicht bedeckt und in grauen Nebel gehüllt. Ich sah die Bäume, die einsamen Holzhütten und die Gehöfte und inmitten schwarzbrauner Ackererde kleine Seen, die im Dunst über die Ufer zu treten schienen. Wir passierten eine eiserne Brücke, hinter dem Fluss begann eine neue Welt. Die Dörfer waren ärmlicher, alte Frauen mit Kopftüchern erinnerten mich an die Heimat, magere Kühe und Ziegen trotteten auf schlammigen Pfaden. Dann kamen zerstörte Dörfer in Sicht, in verwüsteten Landstrichen ragten die Schornsteine der Hütten wie Termitentürme aus der Erde. Die Straßenränder säumten zerstörte Lastwagen, tote Pferde und Holzkarren, doch keine Leiche war zu sehen.
    Zwei Türken versuchten mich auszufragen, sie sprachen ein wenig Arabisch, und ich verriet ihnen mein Alter und woher ich stammte. Doch erst, als sie erfuhren, dass ich aus Berlin in das Lager gekommen war, zeigten sie sich verwundert. Fadil mischte sich ein, versuchte zu erklären, wie es dazu gekommen war, aber ich bremste ihn. Ich sah die wachsamen Augen der Türken und auf der Bank gegenüber das leere Gesicht eines Kaukasiers, dessen Haare und Augen dunkler waren als meine eigenen.
    »In dieser Einheit gibt es sogar Mongolen«, sagte Fadil. »Warum willst du den Türken nichts erzählen?«
    »Ich habe im Lager niemandem etwas erzählt, warum sollte ich es hier tun?«, antwortete ich brüsk. »Wir wissen nicht, wer sie sind und was sie wollen.«
    Fadil war sichtlich unzufrieden mit der Antwort, aber er fügte sich wie so oft in den letzten Monaten.
    Die Waggontür wurde geöffnet und zwei deutsche Kameraden kamen herein, schlenderten den Gang entlang und musterten die Leute auf den Bänken. Sofort sah ich, dass sie betrunken waren und Ärger machen würden. Ich stieß Fadil an und dieser lehnte sich in die Bank zurück, ohne die beiden anzuschauen, die ausgerechnet bei uns stehen blieben, als hätten sie gefunden, wonach sie suchten.
    »Na, wen haben wir denn da?«, sagte der Größere von beiden und zog seinen Begleiter vor sich. »Schau sie dir an, Walter, schau sie dir gut an, das sind unsere tapferen Hilfstruppen. Die werden uns raushauen, wenn der Russe uns den Arsch warmmacht.«
    Walter beugte sich nach vorn, taumelte und stützte sich auf Fadils Knien ab. Er riss den Kopf hoch und starrte mich aus glasigen Augen an. Die blasse Haut seiner Wangen war von roten und blauen Äderchen durchzogen, seine Alkoholfahne nahm mir fast den Atem.
    »Sagt mal, ganz ehrlich, werdet ihr uns raushauen?« Er nickte bei jedem Wort, als müsse er es auswürgen. »Ich meine, ich will nur wissen, ob ihr uns wirklich raushaut, wenn’s drauf ankommt. Ganz ehrlich. Macht ihr das für uns?«
    Fadil sagte ja und versuchte die Hände des Mannes von seinen Knien zu schieben, Walter griff noch fester zu.
    »Also«, schnaufte er, »wenn ich euch so sehe – ich weiß nicht, ich glaube, dass ihr kneifen werdet.«
    »Wie kommst du bloß darauf?«, sagte der andere.
    Walter stolperte nach vorn und fiel uns vor die Füße. Er blieb zwischen den Bänken liegen und legte die Hände hinter den Kopf. Der Kaukasier und die Türken rührten sich nicht. Walter machte ein nachdenkliches Gesicht, bevor er fragte:
    »Sagt mal, ihr seid doch alle beschnitten, oder?«
    Niemand antwortete. Walter rappelte sich auf.
    »Mir könnt ihr es doch sagen. Stimmt es oder nicht? Jeder von euch ist beschnitten. Wie ein Jude.«
    Ich war sicher, das Gesagte als Einziger wirklich zu verstehen; wenn der Mann sprach, blickte er stets nur mich an, als hätte er das bemerkt.
    »Da muss es doch so eine Art Verbundenheit geben. Ich meine, so eine Art … «, er hielt inne, um aufzustoßen. »Hilf mir doch mal«, grunzte er und blickte zu seinem Freund.
    »Ja, ja, aber ich weiß nicht, wie man das nennen soll«, sagte der und grinste.
    »Na, eine jüdisch-bolschewistische Bruderschaft der Schwänze, verstehst du?« Er packte meine Beine und wollte sich hochziehen.
    Mein Schlag traf seinen Mund und warf ihn gegen die Stiefel des Kaukasiers. Ich hatte gut gezielt und war aufgesprungen, um mich gegen den zweiten wehren zu können, der sofort auf mich losging. Fadil aber stieß ihn, so dass er auf die beiden Türken fiel, die ihn von sich schoben und zu Boden drängten. Tumult brach aus, Flüche und

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