Ein weißes Land
hielt sie abwechselnd unter die Nase, wischte und zupfte an sich herum, und wenn man genau hinsah, war es, als schüttele sie sich. Sie zog aus ihrer Schürze Dutzende kleiner Briefchen, die ihr tagsüber von den Soldaten zugesteckt worden waren, und warf sie in einen Mülleimer.
Und doch staunte ich sie an wie ein Wunder. Inmitten der kalten Räume, in all dem süßlichen Gestank und der Nähe der von ihren Exkrementen verschmutzten Körper war sie die Erinnerung an eine andere Welt. Ich habe einfach zu viele tote Frauen gesehen, dachte ich und lehnte den Kopf an den Aktenschrank.
Ich hatte mir vorgenommen, Fadil nicht zur Rede zu stellen, tat es schließlich aber doch. Während des Essens, umgeben von Kameraden, konnte ich nicht mehr an mich halten und fragte ihn, warum er mich in den Kreis der Ukrainer gestoßen hatte. Fadil kratzte sich die schlaff gewordenen Wangen, kaute appetitlos weiter seinen Reis und sagte dann:
»Er konnte dir nichts tun, die Deutschen hätten ihn dafür erschossen.«
»Aber er war betrunken, alle waren sie betrunken. Willst du mich umbringen?«
Fadil hob die Schultern und verzog den Mund.
»Vielleicht.«
Um diese Zeit begann ich zu zweifeln. Ich wusste nicht mehr, wer mein Feind war, und blätterte deshalb abends in der Broschüre mit Widmung, die der Großmufti mir mitgebracht hatte. So fand ich erst nach Tagen zwei Briefe von Mirjam, jeder viermal gefaltet. Sie steckten ganz hinten zwischen den Seiten. Als ich den ersten las, dankte ich im Stillen Abu Hashim.
Wahrscheinlich weißt du, dass wir schon seit langer Zeit Emissäre aus dem Heiligen Land in Bagdad empfangen, manche haben sogar in unserem Haus gewohnt. Immer haben sie großen Respekt genossen und sind von allen Juden geachtet worden, denn sie kennen die Tora und kommen von weit her. Früher sammelten sie Geld für Bauten und Organisationen im Heiligen Land und gingen wieder. Jetzt aber, nach dem Chaos, hat sich alles geändert. Die Emissäre erscheinen vielen wie Retter, die den Schlüssel zu unserer Zukunft in Händen halten.
Hier ist ein Mann angekommen, von dem wir alle nie zuvor gehört hatten. Sein Name ist Enzo Sereni. Wo er auch auftaucht, wird er von den Juden empfangen wie ein Prophet. Er spricht vor Hunderten. Ich erzähle dir das, damit du weißt, dass sich auch hier die Dinge verändern. Enzo Sereni sagt, es kann für uns nur einen Ort auf dieser Welt geben: Eretz Israel. Er sagt, wir müssten nur nach Europa schauen, dorthin, wo du jetzt bist, um zu erkennen, welches Schicksal dem Volk Israels bevorstünde und dass dies alle Juden betreffe, auch jene hier in ihrer ältesten, der babylonischen Diaspora. Jeder bewundert ihn für den Scharfsinn und die Eleganz seiner Reden. Stell dir einen Saal vor, in dem Jung und Alt, Männer und Frauen, Rabbis und Studenten zu einem schmalen Mann aufblicken, der im Licht der Öllampe wie eine Erscheinung wirkt. Er stammt aus Europa. Ich glaube, wir sind alle ein wenig in ihn verliebt. Sogar Ephraim scheint beeindruckt zu sein. Aber er sagt, Sereni verachte uns orientalische Juden. Er hat mit ihm diskutiert, du kennst ihn ja, und der Emissär hat versucht ihn davon zu überzeugen, dass eine sozialistische Revolution in diesem Land ganz unmöglich sei, da es ja überhaupt keine Arbeiter gäbe. Alle Arbeiten würden die Juden wie die Araber den Ärmsten überlassen, während sie selbst für jeden Handgriff ihre Diener hätten. Körperliche Arbeit sei doch hier etwas wie ein Aussatz, und in dieser Hinsicht seien die Juden und die Araber kaum noch voneinander zu unterscheiden. Alle säßen nur in den Teehäusern und kümmerten sich ausschließlich um ihr privates Wohlsein, die Stadt sei voll von Bordellen und anderen Orten des Vergnügens. Das alles sei kein wirkliches Judentum, sondern eine verhängnisvolle Vermischung mit der schläfrigen, abergläubischen, orientalischen Mentalität. In Wahrheit seien die Juden hier unterentwickelte Wilde im Vergleich zu denen in Eretz Israel, sie seien kulturlose Menschen, die erst erzogen werden müssten, bevor sie dort aufgenommen werden könnten. Und das sei die wirkliche Aufgabe für jeden Juden, anstatt politischen Träumereien nachzuhängen. Ephraim war sehr böse darüber, doch ich glaube, auf eine gewisse Weise hat es ihn auch überzeugt. Sogar ich kann ihn verstehen, es klingt so praktisch, und es eröffnet uns einen Weg. Müssen wir uns erziehen, um bessere Menschen zu werden? Ephraim sagt, die Juden hier seien nur äußerlich
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