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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Schreie hallten durch den Waggon, Walter lag unter mir und brüllte vor Wut, konnte jedoch nicht aufstehen. Der andere schlug wild um sich, am Ende aber mussten beide auf den Gang hinauskriechen.
    »Ich will dieses Pack nicht in meinem Rücken haben«, keuchte Walter und wischte sich das Blut von den Lippen. »Herr im Himmel, wer kam nur auf die Idee, uns diese schwarzen Ratten zu schicken?«
    »Das sage ich dir lieber nicht. Halt jetzt das Maul«, entgegnete sein Freund und schob ihn davon.
    Tatsächlich kamen wir in ein weißes Land, das von unsichtbarem Terror bedroht war; jede Bahnstation war eine Festung, mit schweren Palisaden gesichert, selbst die deutschen Lokführer trugen Waffen. Vom Feldlager aus bezogen wir Positionen in hastig ausgehobenen Gräben und Unterständen, auf deren Dachbalken Hauben aus schmutzigem Schnee lagen. Wenn ich durch das Fernglas blickte, sah ich ein endloses Spalier von Tannen jenseits der weißen Ebene. Die langgezogenen Fahrzeugspuren zu ihnen hin und von ihnen her waren eine unlesbare Schrift, ein sinnloses Muster, das unsere Position mit dem weiten Land verband, aus dem die unterschiedlichsten Truppenteile der Wehrmacht zurückfluteten. Das war kein geordneter Rückzug durch gefrorene Sümpfe und durch Flüsse, die krachten und klirrten, als würden sie Glas davonspülen. Alle Stützpunkte wurden provisorisch errichtet, nichts schien mehr Bestand zu haben. Etwas drängte gegen uns, während wir voranmarschierten, und es jagte uns in die Gräben, wenn wir es wagten, auf Erkundung auszugehen.
    Die Grundlagen der Bandenbekämpfung, wie sie uns Berner erklärte, waren einfach: Während der deutsche Soldat an der Front verblutete, breitete sich im Hinterland das Bandenunwesen epidemisch aus. Zwischen der Roten Armee und den Partisanen gab es vielerlei direkte Verbindungen und nachweislich taktische Absprachen. Wer immer aus den Dörfern in die Wälder verschwand, hatte Gründe dafür. Partisanen zerstörten die Nachschubwege, ermordeten, so wurde gesagt, in erbeuteten deutschen Uniformen Zivilisten, um Material für die rote Propaganda zu produzieren und Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten.
    Als Verbindungsglieder zwischen der Roten Armee und den Partisanen fungierten die Juden, die in jedem größeren Ort den Handel und damit die Verkehrswege beherrschten. Sie bildeten eine seit Jahrhunderten verschworene Gemeinschaft aus Bessergestellten und Höhergebildeten, deren ganzes Trachten darauf gerichtet war, jene bolschewistische Saat zu schützen, die sie ausgebracht hatten, um Europa zu zerstören, und die sie nun in Gefahr sahen. Worauf es ankam, war, in den Juden die Bedrohung und nicht das zu sehen, als was sie in Todesgefahr mit allem Weh und Ach erschienen. Händeringende Frauen, weinende Kinder, alte Männer waren Ausgeburten eines perfiden, nimmermüden Geistes der Zersetzung und, so wurde gesagt, natürlich auch eine Herausforderung für die soldatische Gesinnung. Hier aber nicht zu wanken, sondern fest zu bleiben in Überzeugung und Tat, darin bestand für jeden Einzelnen die eigentliche Aufgabe.
    Sturmbannführer Müller-Abig überließ solcherlei Erläuterungen den Eierköpfen, die, wie er zuweilen sagte, sogar Gründe bräuchten, um scheißen zu gehen.
    »Muselmanen oder nicht, man kommt nicht in eine bandenverseuchte Gegend wie diese, friert wie ein Schneider und knackt Tag und Nacht Sackläuse, um am Schluss unverrichteter Dinge wieder zurückzufahren. Im Kampfgraben hocken und nach T-34 suchen, das ist was für die Schuljungs von der Wehrmacht. Hier steht der Feind überall, hinter jedem Baum, hinter jedem Ziehbrunnen, in jedem Haus. Alles, was ihr habt, sind eure Befehle, sie sind euer, na ja, Evangelium.«
    Der Imam, der auch Sprachmittler war, übersetzte all das langsam und ungenau. Die Tataren kniffen die Augen zusammen, die Aserbaidschaner und Türken blickten duldsam ins Leere. Gestank von der hölzernen Latrine wehte über den Platz, Arbeitsjuden und dienstverpflichtete Russen erweiterten gerade die Sickergrube. Sie arbeiteten pausenlos, jedoch langsam, die schmutzige Kleidung hing ihnen von den Körpern, ihre Glieder waren dünn wie die von Vogelscheuchen. Ich hatte beobachtet, wie sie stark taten und ihre Arme versteckten, wenn Mannschaftspersonal in der Nähe war.
    Aus dem Augenwinkel sah ich die Fichtenstreifen am Rand der Senke, in der sich das umzäunte Feldlager befand. Der Morgen war kalt und in der Nacht hatte es Beschuss gegeben, sogar von

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