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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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andauernde Geräusch meines eigenen Atmens gewöhnt, manchmal rettete es mich sogar vor dem Gejammer der Verletzten und erleichterte mir das Einschlafen. Ich ließ mir das Skatspielen beibringen. Durch den Augenschlitz beobachtete ich die anderen, sah sie die Karten auf den Boden knallen und so tun, als brüllten sie dabei.
    »Und du, alte Mumie, bist aus Berlin, ja?«, fragte Willy, ein Bauzeichner und Unterscharführer, der hier aber nicht viel darauf gab.
    Er hatte seine linke Hand verloren, weshalb ihm das Kartenspielen Mühe bereitete. Immer, wenn er den bandagierten Stumpf bewegte, betrachtete er ihn für einen Moment aufmerksam, bevor er weitermachte.
    »Wie war’s denn so, erzähl mal.« Willy schob sein Blatt vorsichtig mit dem Unterarm auseinander.
    »Es war schön«, sagte ich freimütig. »Ich habe in einem großen Hotel gewohnt.«
    »In welchem Hotel?«
    Der das fragte, hieß Hugo und war ein Ostpreuße, den es zur Kaminski-Brigade verschlagen hatte. Ich verdächtigte ihn, im normalen Leben ein Krimineller wie ich selbst gewesen zu sein. Im Unterschied zu allen anderen verlor er nie ein Wort über seinen Beruf, wich vielmehr aus, wann immer das Gespräch darauf kam. Er wirkte mürrisch und war schweigsam, nicht einmal über die Art seiner Verletzung gab er Auskunft. Im Grunde aber litten hier alle unter Gedächtnisschwund. Niemand sprach über seine Erlebnisse, man verbrachte die Zeit mit Geplänkel.
    »Was hat ein Schütze Arsch wie du in einem großen Hotel zu suchen? Das träumst du doch.«
    »Lass ihn in Ruhe«, sagte Willy. »Hier, hier kocht die Milch.«
    Sichtlich verärgert warf Hugo seine Karten hin.
    »Ich lass mir so was nicht erzählen, von keinem.«
    Er rappelte sich auf und stieß dabei den Topf mit der Primel um. Ohne weiter darauf zu achten, zog er sich in eine Ecke des Korridors zurück. Während Willy versuchte, ihn zum Weiterspielen zu bewegen, sammelte ich die Erde mit den Händen auf und tat sie in den Topf zurück, richtete die Primel, so gut es ging, wieder auf.
    In diesem Moment kam Katharina die Treppe herauf, sah, was geschehen war, hockte sich neben mich und nahm mir den Topf aus der Hand. Unter der Kittelschürze kamen ihre nackten Knie zum Vorschein, kurz nur, aber doch lange genug, dass wir alle darauf starrten. Sie bemerkte es und erhob sich rasch. Vorwurfsvoll hielt sie die Primel vor sich und trug sie ins Schwesternzimmer. Von da an bekam ich sie nicht mehr aus dem Sinn. Etwas war in mir erwacht, zunächst als blasse Erinnerung an längst Vergangenes, bevor es vollends von mir Besitz ergriff und mich von diesen Knien träumen ließ. Die Haut unter meinem Verband brannte stärker als je zuvor, und ich wartete nun wie so viele andere darauf, Katharina zu sehen. Sie erschien mir wie eine jener Engelsfiguren aus Stein, die ich hier in Europa oft am Weg gesehen hatte und die, niedergeworfen und grotesk verstümmelt, auf gewisse Weise vollständig blieben, als ergänzte das Auge ihre Faltenwürfe, Glieder und Köpfe. Das war etwas Seltsames auf meinem Weg durch die Trümmerlandschaften: Ich hörte nie auf, die Schönheiten Europas, welche ich nur aus Büchern kannte, zu besichtigen.
    Dem Engel, der Katharina von nun an für mich war, hätte ich gern einmal zugelächelt, doch es mir blieb nur, ihr durch meine widerliche Maske hindurch mit den Augen zu folgen. Wie Frankensteins Monster war ich von den Menschen um mich getrennt, obwohl ich eigentlich doch war wie sie.
    An Heiligabend hatte jemand sogar einen traurigen kleinen Tannenbaum aufgetrieben. Wir stellten ihn in den freigeräumten Operationssaal, die alte Aula, und behängten die Zweige mit Streifen aus buntem Papier, einer Hinterlassenschaft der Schulkinder. Ich wusste, dass es sich um ein sentimentales Fest handelte, getragen von Erinnerungen an bessere Zeiten und die Familien daheim. Doch ich ahnte nicht, wie ansteckend die allgemeine Rührseligkeit sogar auf einen Fremden wirken konnte. Selbst die Schwerverletzten zeigten diesen besonderen Ausdruck, etwas wie Besinnlichkeit und kindliche Trauer zugleich, der mich selbst nachdenklich werden und ein Innenleben führen ließ. Ich erinnerte mich deutlicher, als ich wollte, und bei jeder Gelegenheit, so dass mich schließlich selbst die Skatbrüder verstießen.
    Im Zug, auf der Fahrt Richtung Minsk, waren die Abteile überfüllt mit Türken und Aserbaidschanern, es gab Schnaps und viele der Männer waren schon am Beginn der Fahrt betrunken. Ich trank kalten Tee mit zwei

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