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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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gab so viele wie euch, die gegen die Bolschewisten kämpfen wollten. Mit Blumen in den Händen, mit Salz und Brot standen sie zuseiten der Rollbahnen. Selbst unter den Kriegsgefangenen gab es so viele, die bereit gewesen wären … « Er nahm die Mütze wieder ab und schüttelte den Kopf. »Ihr kennt doch diesen Engländer Lawrence. Wie er hätten wir den Muselmanen die Freiheit versprechen und sie zum Aufstand bewegen sollen. Stattdessen …« Müller-Abig ließ wieder den Blick schweifen. »Jetzt sind unzählige von ihnen da draußen.«
    »Er hat uns betrogen«, platzte ich heraus.
    Der Sturmbannführer sah mich überrascht an.
    »Er hat uns benutzt, aber die Freiheit gab er uns nicht«, sagte Fadil.
    »Na, was habt ihr erwartet? Der Engländer ist ein elender Imperialist und eiskalter, glaubensferner Schacherer. Er benutzt alles und jeden, Hauptsache, es dient dem Geschäft und der Operettenmonarchie, hinter der er es versteckt. Auf das Wort eines Deutschen hättet ihr euch verlassen können.«
    Er erzählte uns von den Bemühungen, Gehör zu finden für sein Anliegen, von dem er noch jetzt zutiefst überzeugt war. So erfuhren wir, dass er auch unseren einstigen Herrn, den Großmufti, kennengelernt hatte, jemanden, für den er Hochachtung empfand, weil er für seine Überzeugung eintrat, auch wenn er dafür um die ganze Welt reisen musste.
    »Nun«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, »er hat viele Ideen, ist aber kein Mann der Tat und des Krieges.«
    Wir widersprachen ihm nicht.
    Am nächsten Tag war der Himmel über dem Land so blau, dass wir versucht waren, ständig hinaufzublicken. Müller-Abig führte uns zu den Resten einer Baumgruppe, niemand wusste, was er vorhatte. Zunächst überließ er uns dem Imam, stellte sich an die Seite und beobachtete die Predigt.
    Der Imam zitierte wie so oft schon aus der achten Sure des Koran:
    »Oh ihr, die ihr glaubt, so ihr auf eine Schar treffet, stehet fest und gedenket häufig Allahs; vielleicht ergeht es euch wohl. Und gehorchet Allah und seinem Gesandten und hadert nicht miteinander, damit ihr nicht kleinmütig werdet und euer Sieg euch verlorengeht. Und seid standhaft; siehe, Allah ist mit den Standhaften.«
    Es folgte das Gebet. Die Sonne wärmte unsere Rücken und ein Seufzen ertönte, wenn die Männer sich aufrichteten und erneut niederknieten. Ich zog die zerfetzten Handschuhe von den Händen und berührte den glitzernd tauenden Schnee. Wenn ich stand, legte ich den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen einen Spalt weit, gerade genug, um diese Bläue zu sehen, die jede Erhebung, Bäume und Sträucher wie Gravuren trug, scharf gezeichnet und zart zugleich. Ein Wind spielte in dieser weiten Kuppel, so mild und zaghaft, als wäre er seinem sibirischen Vater von der Schulter gesprungen und hierher ausgerissen. Unwillkürlich musste ich lächeln.
    Als wir fertig waren, hob Müller-Abig die Arme wie für eine weitere Predigt im Freien. Vier Bäume ragten hinter dem Sturmbannführer aus dem Schnee. Sie wirkten wie die Überbleibsel einer Baumgruppe, waren kahl und erst ab etwa zwei Metern Höhe als Birken zu erkennen. Dort war die Rinde unversehrt. Als hätten vier zerschundene, in den Boden gerammte Pfähle ausgeschlagen, wiegten sich die lichten Kronen im Wind.
    Hier, so erfuhren wir, hatte es ein provisorisches Kriegsgefangenenlager gegeben, damals während des Vormarsches. Unvorstellbares Chaos hatte geherrscht und für Tausende gab es nichts als die nackte Erde.
    »Und die Bäume«, sagte Müller-Abig und wies hinter sich. »Viel ist nicht davon geblieben.«
    Ich blickte auf das helle, zerfetzte Holz der Stämme, sah die abstehenden Fasern und begriff erst jetzt, dass es Fraßspuren waren. Niemand war höher gekommen als zwei Meter.
    Im nächsten Moment zuckte der Sturmbannführer zusammen, machte einen Schritt nach vorn und fiel in den Schnee. Seine Mütze bewegte sich, während er noch das Gesicht verzog, als müsse er husten, dann lag er still. Der Schuss musste aus enormer Distanz abgefeuert worden sein, alles warf sich zu Boden und wartete.
    »Er ist tot«, flüsterte Fadil neben mir und es klang wie das Urteil über uns alle.
    Ich sah Fadils weiß bestäubten Ärmelstreifen, schaute über das flache Land hinüber zu der kaum noch erkennbaren Baumzeile, von der her der Schuss gekommen sein musste. Unwirklich weit entfernt zog sich dieser Streifen auf dem Schnee entlang wie eine Staubspur. Ein Rabe krächzte irgendwo und das Blut des Sturmbannführers ließ

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