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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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den Schnee aussehen wie frisch verwundet.

6.
    D ie Scham über mein Verhalten am »Bunten Abend« quälte mich den ganzen nächsten Tag über. Ich wagte nicht, mich dafür zu entschuldigen, ja, nicht einmal, den Schwestern unter die Augen zu treten. Stattdessen sinnierte ich in der Krankenstube darüber, was in mich gefahren war, keuchte bei dem Gedanken, mich derart entblößt zu haben. Wahrscheinlich lachte das ganze Lazarett über mich, allen voran Doktor Stein.
    Dieser jedoch stattete mir in der Krankenstube einen Besuch ab und tat, als wäre nichts geschehen. Erst als er mich untersuchte, sagte er irgendwann:
    »Das war dein südländisches Blut. Wir haben alle unsere Laster.«
    Ich fragte ihn, welches denn seines sei, und er wies auf die kleine schwarze Tasche, die er mitgebracht und an das Fußende meines Bettes gestellt hatte.
    »Ich habe sie immer bei mir«, sagte er beiläufig, zog sie heran und öffnete den Verschluss.
    Nur mit Mühe gelang es mir, einen Blick hineinzuwerfen; die Tasche enthielt zwei Ampullen, eine Spritze und einen ledernen Riemen.
    »Man muss mich nur in die Nähe eines Krankenhauses lassen, dann bin ich glücklich«, sagte Dr. Stein. »Und es macht mir nicht mal etwas aus, anderen das Morphium wegzunehmen, die es viel dringender brauchen. Denk dir, so tief kann man sinken. Dafür musst du das Geschrei ertragen.«
    Kurz sah er mich an wie ein ungezogener Junge.
    Ich erzählte ihm, wie meinem Großvater in Bagdad vor langer Zeit eine Hand amputiert wurde. Es gab keine Betäubung und so trat der Mann mit der Säge einfach in den Schlafraum, wartete, bis alle Frauen der Familie um das Bett versammelt waren und ließ sie auf das Bett steigen, um den Patienten festzuhalten. Nur die entzündete Hand ragte aus dem Menschenhaufen, und da es sehr peinlich gewesen wäre, vor den Frauen als Schwächling zu erscheinen, biss mein Großvater auf den Griff eines Holzkamms und ertrug die Schmerzen.
    »Na«, sagte der Doktor unbekümmert, »das beruhigt mich ja. Ich zweige also nur eine überflüssige Segnung der modernen Medizin für mich ab.«
    Gegen Abend schlief ich, von meinen Gedanken ermüdet, tief und traumlos ein. Doch nur wenig später öffnete ich die Augen und blickte durch den Verbandsschlitz um mich. Ich hoffte ausgeruht zu sein, denn nun umfingen mich wieder die Geräusche, an die ich mich einfach nicht gewöhnen konnte. Mit Mühe erhob ich mich und wankte in den Korridor und hinein in den feuchten Dunst der Kranken, den ich sogar durch den Verband riechen konnte.
    Als ich wieder vor der verschlossenen Eingangstür stand, regte sich in mir ohnmächtige Wut darüber, in diesem Lazarett eingesperrt und dazu verdammt zu sein, Nächte wie diese zu erleben. Ich bin nicht müde genug, sagte ich mir, warum nur bin ich so wach? Ich bin verletzt, ich habe Schmerzen, aber mein Körper will einfach nicht ruhen.
    Ich wandte den Kopf in alle Richtungen, suchte einen Weg, der mich nicht zum Zimmer zurück führte, und entschied mich für den schmalen Gang zu den Schultoiletten. Die Türen standen offen, ich stolperte über Eimer, gefüllt mit gebrauchtem Verbandszeug, Wundhaken und Gefäßklemmen. Der medizinische Abfall des Lazaretts war hier gelagert, in einem der Toilettenbecken schwamm etwas Blutiges.
    Hastig öffnete ich die Fensterluke, zog mich hinauf und zwängte mich durch die Öffnung. Ich stürzte auf den schlammigen Boden, doch spürte kaum Schmerz, rappelte mich rasch auf und ging über den Platz zum Eingangstor. Dort hielt ich inne und lauschte, konnte jedoch keine Wache entdecken. Entweder hatte sich der Posten unerlaubt entfernt oder er war irgendwo eingeschlafen, jedenfalls konnte ich einfach hinausspazieren, blickte mich nicht um, ging über das Kopfsteinpflaster geradewegs in Richtung Stadt.
    Es herrschte tiefe Nacht und doch begegnete ich zwei Radfahrern, von denen einer bei meinem Anblick beinahe stürzte. Die Männer sprachen mich leise an, ich verstand sie nicht. Unbeirrt ging ich weiter, doch sogleich hatten die beiden ihre Fahrräder niedergelegt und waren zu mir gekommen. Ihren Stimmen nach zu urteilen, waren sie jung, und sie redeten in dieser seltsam klingenden Sprache, die ich auch bei manchen der Partisanen gehört hatte. Ich hob die Hände, um ihnen zu signalisieren, dass mit mir alles in Ordnung sei, wollte weitergehen, da ergriffen sie wie auf ein Kommando meine Arme. Sie begannen, mich um mich selbst zu drehen, durch den Schlitz im Verband sah ich die braunen Häuser

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