Ein weißes Land
Vertrauten hieß es, sie hätten bei den Rückeroberungskämpfen um Charkow versucht, zu den Deutschen überzulaufen. Jedenfalls fand man sie, versteckt wie eine Rattenfamilie, in einem riesigen Wasserkübel.
Fadil und ich hielten die Geschichte von Anfang an für unglaubwürdig. Und nicht nur bei uns regte sich der Verdacht, er sei ein Agent der Roten, in die Einheit eingeschleust zum Zwecke von Zersetzungs- und Unterwühlungstätigkeiten. Niemand konnte ihm das je beweisen, doch der Verdacht stand im Raum.
Dennoch mochte ich den umtriebigen Arkadi, obwohl ich mich nicht mit ihm verständigen konnte. Gern sah ich ihm zu, wenn er hinter den Baracken seine Hasen abzog. Ständig lachend und auf mich einredend, setzte er seine präzisen Schnitte an und kommentierte lobend das rohe, rote Fleisch seiner Beute, wenn er das Messer ableckte. Auch wenn es in den Wäldern Wild gab, war es uns verboten zu jagen, denn so hätten wir unsere Position preisgegeben. Auch die Partisanen jagten nie mit der Waffe. Stattdessen benutzten sie Fallen, Drahtschlingen, die sie so geschickt auslegten, wie wir es nie vermocht hätten. Außerdem, das wussten wir von unseren Inspektionen ihrer Unterkünfte, sammelten sie Unmengen von Beeren. Genauso ernährten sich auch Arkadi und seine Männer. Sie taten es, als wären sie lange schon daran gewöhnt – und das eben weckte den Argwohn unserer Oberen.
Müller-Abig behielt die Russen im Auge, die sich selbst als Turkestaner bezeichneten. Wir anderen gingen ihnen während der Freizeitgestaltung aus dem Weg, man könnte auch sagen, wir verbündeten uns gegen sie für den Fall, dass sich die Gerüchte eines Tages als wahr erweisen sollten.
Es gab eine Sache, für die ich Müller-Abig trotz seiner Strenge bewunderte: Für einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier erstaunlich, teilte er nicht den Verdacht, dem unsere Einheit ausgesetzt war, dass wir uns ohnehin niemals bewähren, sondern bei erster sich bietender Gelegenheit meutern oder überlaufen würden. Er glaubte an uns und diese ganze Unternehmung, für die er freiwillig zur Waffen- SS gewechselt war.
Auch auf mich kam er einmal zu, der Laufgraben ließ nicht genug Platz für uns beide, ich trat zurück an die Grabenwand und er blieb stehen. Kurz musterte er mich und fragte nach meiner Herkunft. Ich antwortete zögerlich, doch was ich berichtete, schien sein Interesse zu wecken. Mit Blick über den Grabenrand sagte er:
»Sobald die Bande es zulässt, sollten wir uns einmal darüber unterhalten.«
Die Aufmerksamkeit des Sturmbannführers schmeichelte mir. Ich empfand Erleichterung und Stolz zugleich. Sollte nun doch noch etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen zu diesem »bunten Haufen«, wie Müller-Abig uns nannte?
Fadil hielt den Mann für einen Träumer und hatte damit wahrscheinlich recht. Doch in einem Land, das begraben war vom Schnee, der sich nur im eisigen Wind manchmal erhob, um mannshohe Geistergestalten vorüberziehen zu lassen, wirkten der Krieg, die Welt und all unsere Erinnerungen wie Träumereien. Wir bekamen keine Nachrichten, und was wir um uns sahen, war vor Kälte leblos.
»Vielleicht ist es ja Wahnsinn«, sagte der Sturmbannführer nachdenklich.
Er blickte Fadil und mich versonnen an und gab uns das Gefühl, eine private Unterhaltung mit ihm zu führen. Wir saßen im Kampfgraben auf einem Baumstamm und die feuchte Erde der Grabenwand verriet, dass es sehr langsam, mit jeder Nacht ein wenig mehr, Frühling wurde. Auch der Schnee ringsum war inzwischen feucht und schwer geworden. Hier draußen fühlte sich Müller-Abig wohl, trotz der Kälte atmete er tief ein und genoss den Blick in die Ferne.
»Ihr wärt nicht die Ersten, die mir das sagen, ihr zwei Räuber aus dem Morgenland.«
Nichts lag uns ferner, als ihm irgendetwas in dieser Art zu sagen, aber wir nickten und hörten aufmerksam zu.
»Bevor ich zu euch kam, war ich beim Heer. Ich habe das alles hier erobert.« Er wies über den Grabenrand hinaus und verstummte kurz. »Alles, was wir jetzt gegen diese Terroristen verteidigen müssen.«
Er rückte die Mütze zurecht und zupfte an seiner Feldjacke herum, als bereite er sich auf sein eigentliches Thema vor.
Mir ging durch den Kopf, dass dieser Mann ganz sicher irgendwo in Deutschland Frau und Kinder hatte, denen er nichts von dem erzählen würde, was er hier erlebt hatte, und ich fragte mich damals schon, ob es mir ebenso erginge, wenn ich je den Weg zurück fände.
»Wir haben es falsch angefangen. Es
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