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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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auf das Haus, auf den Garten, auf die ganze Stadt. Stück für Stück, mit jedem Freund der Familie verlieren wir unsere Heimat ein wenig mehr. Neulich war ich mit Ezra und Ephraim wieder einmal am Fluss, dort, wo wir vor langer Zeit einmal ein Picknick hatten. Erinnerst du dich? Wenn ich auf den Tigris hinausschaue, kommt es mir vor, als wäre er breiter geworden, als hätte sich unser Ufer vom Rest der Stadt entfernt. Es ist eigentlich friedlich, doch Baba sagt, die Gewalt könnte jederzeit wieder ausbrechen und wir sind wieder nicht darauf vorbereitet. Er ist alt geworden, jetzt läuft er gebeugt, und wenn er es nicht merkt, blicke ich auf seine zitternde linke Hand. Nana liest jeden Nachmittag im Kaffeesatz und alle ihre Vorhersagen sind düster. Aber das wird dich dort in der Ferne nicht interessieren. Diese Kleinigkeiten des Alltags können dir nur lächerlich erscheinen. Jemand will gehört haben, dass du ein Soldat geworden und in den Krieg gezogen bist. Ich kann mir das nicht vorstellen, du, in einer Uniform, mit einem Gewehr in der Hand. Gern würde ich wissen, gegen wen du kämpfst und ob du all das um einer guten Sache willen tust. Nie hast du über deine Ideen gesprochen, immer nur zugehört. Wie kommt es da, dass ausgerechnet du bereit bist, für sie zu sterben? Sind alle um dich herum wie du? Opfern sie sich oder sind sie einfach nur dumm? Je länger du fort bist, umso mehr verblasst meine Erinnerung an dich. Manchmal ist es so, als gäbe es dich gar nicht, ich zweifle wirklich an deiner Existenz. Wem schreibe ich eigentlich, frage ich mich. Ezra sagt, es geht ihm genauso. Nicht alles ist hier beim Alten, aber manches schon. Es ist erstaunlich zu sehen, wie wenig sich verändert, trotz der Schrecklichkeiten, die wir aus Europa hören. Man sagt, es gebe Lager dort, in denen die Juden umgebracht und verbrannt werden. Ich frage mich, ob du so etwas vielleicht gesehen hast. Und ich frage mich noch etwas – aber das spreche ich nicht aus. Wie alle anderen werden auch wir bald fortgehen und doch sage ich: Komm zurück.
    Mirjam
    Ich ließ Fadil auf der Treppe liegen, hastete auf die Straße hinaus und fand mich zwischen ein paar berittenen Kosaken wieder. Sie paradierten die Straße entlang und sangen dabei, als hätten sie bereits gesiegt, blutrote Handabdrücke und Muster an den Flanken ihrer Pferde. Das Fußvolk drang in die Häuser ein und plünderte, jede Art von Hausrat wurde aus den Fenstern geworfen oder einfach auf dem Buckel fortgeschleppt. Wie damals in Bagdad war die Gier auch hier unersättlich; Männer brachen unter ihrer Last zusammen und drohten den Umstehenden, um nur ja nichts davon zu verlieren. Andere taumelten aus den Hauseingängen, trugen Röcke über den Hosen und Damenhüte statt ihrer Mützen.
    Längst hatte ich die Orientierung verloren, doch ich nutzte die Toten als Wegweiser: Je frischer sie waren, desto näher kam ich meinen Leuten. Indessen beschäftigte mich Mirjams Brief. Jetzt, da ich ihn noch einmal gelesen hatte, begriff ich erst den Sinn ihrer Frage: Warum ausgerechnet ich? Doch ich fand keine Antwort darauf; das Schicksal hat es so gewollt, hätte ich ihr gesagt, Ideen haben nichts mit dem Krieg zu tun, sondern mit Plakaten und den Büchern über ihn. Auch die politischen Gedanken des Großmuftis – Fadil war sie los und was bedeuteten sie hier?
    Und plötzlich verlangsamte sich mein Herzschlag, ich presste den Rücken an eine Hauswand und blickte mich um. Ich sah Kaminskis Männer wie Chimären schwanken inmitten von Trümmern und Toten. Nichts, was sie kannten, kannte ich, nicht ihren Hass und nicht das, was ihn erzeugt hatte. Ich war allein hier, atmete den beißenden Qualm, der aus den Fenstern quoll, sah die kümmerlichen Reste des Sonnenlichtes auf der scherbenübersäten Straße glitzern. Links von mir, hinter dem niedergerissenen Zaun eines Gartens waren KZ ler und Hilfswillige dabei, Balkenroste aufzubauen, um die Leichen zu verbrennen. Eine Hygienemaßnahme. Die Organisation funktionierte noch immer.
    Im Hitzewabern der Feuer sah ich einen breitschultrigen Mann, an dem mir sein fehlendes Ohr auffiel. Ich ging hinüber und stellte mich hinter ihn, während er noch immer tote Körper aufschichtete.
    »Arsen«, sagte ich schließlich leise.
    Er wandte sich um und lächelte kurz, bis er mich erkannte. Ich war unsicher, ob er es wirklich war. Ängstlich wich er vor mir zurück, stieg auf die im Hof wie Müll umherliegenden Toten, schwankte und breitete die Arme. Er

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