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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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seid ihr gekommen?«, flüsterte er zurück.
    Etwa zwei Stunden später traf es Farhad, als er an einem Fenster vorbeiging. Die Wucht der Kugeln warf ihn vor uns in den Dreck und es blieb nichts, als über ihn hinwegzusteigen. Kurz darauf hatten wir freie Sicht auf die Wolska-Straße. Der Wehrmachts-Tiger war wieder da, diesmal nur hundert Meter entfernt. Das war gute deutsche Technik, die uns Schutz verhieß, und von dort war es nicht mehr weit bis zum Adolf-Hitler-Platz.
    Mitten auf der Straße standen Wehrmachtsingenieure, einer davon, dünn wie ein Storch und mit krummem Rücken, kratzte sich am Kopf, während Gas in die Kanalisation geleitet wurde: Erprobungsstadium. Sie waren gerade fertig, als wir bei ihnen ankamen. Alles ging in Deckung, dann wurde das Gas entzündet. Die Explosion war so gewaltig, dass sich kurz die Straße hob, als wollte sie die Häuser und mit ihnen uns alle abwerfen.
    Fadil und ich drängten weiter, doch gleich war Papa Schneck bei uns.
    »Hier, hier kocht die Milch«, sagte er grinsend und wies auf die Kanalöffnung. »Nur ihr zwei. Kommt alles ins Buch. Wirst sehen, kriegt einen Orden dafür.«
    Nicht weit entfernt wurde ausgeräuchert. Im Fauchen der Flammenwerfer stiegen Fadil und ich in den Abwasserkanal hinab. Über uns entfernte sich das Licht, in der runden Öffnung sahen wir den Kopf des Scharführers.
    »Er will uns umbringen«, sagte Fadil, als wir unten standen.
    Der Gestank und die plötzlich wieder kalt meine Brust umklammernde Angst ließen mich wie einen Hund japsen und die Zähne blecken. Kurz leuchtete ich in den niedrigen Tunnel, betrachtete die rundherum mit Scheiße überzogenen Wände und schaltete die Lampe aus. Nacheinander marschierten wir in die stinkende Dunkelheit, von den Explosionen oben blieb hier nur ein Röhren und Rasseln.
    Das schmatzende Geräusch unserer Schritte verriet uns, daher blieb ich alle paar Meter stehen. Noch einmal schaltete ich die Lampe ein, und bei der nächsten Röhre, die nach oben führte, sahen wir es: Dicht an dicht, oben und unten klebten die Leichen von Männern und Frauen an den Tunnelwänden, nackt, mit ausgebreiteten Armen und grotesk flachgequetscht, obszön verrenkt und entstellt, ohne Augen und Haare. Zwischen den Menschenkörpern jene der Ratten, erkennbar nur noch an den sternförmig auseinandergezogenen Pfoten. Wir sahen einen Fries der Vernichtung, und ich bin sicher, schließlich hatte sich mir dort unten der geheime Plan enthüllt.
    »Er will uns hier sterben lassen«, sagte Fadil angewidert.
    »Er spielt nur mit uns«, entgegnete ich.
    Flach atmend warteten wir einige Minuten, gingen dann zurück und stiegen wieder hinauf. Der Kanaldeckel lag halb über der Öffnung.
    »Da siehst du es«, stieß Fadil hevor.
    Unter Aufbietung all meiner Kraft schob ich den Deckel beiseite und kletterte auf die Straße hinauf. Niemand war da. Ich reichte Fadil die Hand und zog ihn herauf, als ihn ein Zucken durchlief und er augenblicklich erschlaffte. Ich zerrte ihn aus dem Loch, schleifte den Körper in einen Hauseingang und auf die erste kurze Treppe, bevor ich Ausschau nach dem Schützen hielt. Kurz kam Fadil noch einmal zu sich und patschte mit der flachen Hand auf den Treppenabsatz.
    »Du schaffst es immer, was?«, sagte er müde.
    »Ja, das Glück ist mir auf den Fersen, es will einfach nicht ablassen.«
    Fadil nickte lächelnd. »Ich weiß, dass du noch einen zweiten Brief von der Jüdin hast. Lies ihn mir vor.«
    »Aber … «
    »Egal, er ist von zu Hause.«
    Überrascht begann ich zwischen den Briefen jene von Mirjam zu suchen. Es dauerte und Fadil atmete schwerer.
    »Sag meinem Vater – sag ihm, dass ich so war wie du … «
    Sein Atem rasselte und pfiff und sang, Blut sammelte sich in der Mitte der ausgetretenen Stufen und tropfte über die Kanten hinab.
    Ich las ihm den Brief vor, doch wahrscheinlich war er da schon tot und erfuhr nicht mehr, dass der Kampf, den er damals in der Heimat begann, tatsächlich zum Erfolg geführt hatte.
    Der Emissär ist wieder fort. Und wie immer, wenn einer von ihnen nach Palästina zurückkehrt, ist es, als würden wir zurücksinken in die Dunkelheit, von der er gesprochen hat. Wir fühlen uns klein und unterentwickelt und asiatisch und schämen uns ein wenig dafür. Wir alle sind voller Zweifel. Vor allem immer dann, wenn wir eines der schier endlosen Abschiedsfeste gefeiert haben. So viele gehen fort und wir werden sie vielleicht nie wiedersehen. Es ist traurig. Die Stimmung legt sich

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