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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Auch Ezras Vater war da, er saß neben seinem Sohn auf der Bank. Später erfuhr ich, dass die beiden gewartet hatten, bis ich heraufgeholt worden war. Mein Vater starrte mich nur stumm an. Es lag nicht einmal Zorn in seinem Blick, nur Ratlosigkeit.
    Der Polizist stand nahe bei uns. Sein breites Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart darin war ein einziger Vorwurf, ab und an schüttelte er sogar den Kopf. Ich spürte die kühle Luft auf der schweißverklebten Haut. Kurz überlegte ich, ob ich dem Polizisten etwas von Malik erzählen sollte. Niemand hatte danach gefragt, immerhin aber wusste ich, wer der Mörder des Mannes war, den wir gefunden hatten. Doch ich schwieg. Auch wenn ich nicht wirklich zu den Leuten im Keller gehörte, so sträubte sich doch etwas in mir dagegen, jetzt die Seiten zu wechseln.
    Ezras Vater erhob sich, zog seinen Sohn auf die Beine und schlug ihn demonstrativ mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Danach breitete er die Arme aus, sagte ein paar Worte zu dem Polizisten und wandte sich dann an meinen Vater. Er sprach langsam, fast feierlich, der jüdische Akzent war kaum noch herauszuhören. Ich schaute die beiden Männer an. Äußerlich ähnelten sie sich, beide waren von etwa gleicher Körpergröße, etwas beleibt, die Haut recht dunkel. Nur die Kleidung unterschied sie deutlich. Das Gewand und der Turban meines Vaters waren vom Staub der Ziegelei bedeckt. Ezras Vater trug den für die älteren Juden typischen roten Fez, ein Relikt aus osmanischer Zeit. Sehr gut kleidete ihn sein sauberer europäischer Anzug mit feinem dunklem Linienmuster. Über dem Bauch spannte sich die Weste, geschmückt vom goldenen Kettchen einer unsichtbaren Taschenuhr.
    Ich blickte zu Ezra, der mir aufmunternd zulächelte. Und genau jetzt, als ich mich allmählich beruhigte und der Gedanke an den Keller verblasste, fühlte ich wieder die Sehnsucht nach den Häusern der Reichen.

5.
    D amals bin ich oft im Park zu der Stelle gegangen, an der ich Mirjam das letzte Mal gesehen hatte. Ich erinnere mich noch an die Schmerzen, die ich dabei hatte. Wie erwartet bekam ich für den Ärger mit der Polizei von meinem Vater Prügel. Dennoch stand ich nach der Schule manchmal für eine Stunde in der Nähe des Cafés. Dann sah der Park völlig anders aus, aber auch bei Tageslicht war er leer. Vor Einbruch der Dämmerung kam kaum jemand hierher, das war schon etwas Besonderes in einer Stadt, in der die meisten Gassen so eng waren, dass man die gegenüberliegenden Hauswände mit ausgestreckten Armen berühren konnte.
    Ich wusste nicht recht, was ich im Park wollte, aber er war etwas, das Mirjam und ich teilten. Er war alles, was ich von ihr hatte. Von Ezra hielt ich mich fern, wenn auch nur auf Befehl meines Vaters und um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Doch von all dem war in mir eine Ruhelosigkeit zurückgeblieben, das Gefühl, etwas zu suchen. Für mich schien es Mirjam zu sein, vielleicht aber war es in Wahrheit etwas ganz anderes.
    Ich begann also zu suchen und wartete dabei immer länger. Zugleich hatte ich auch Angst, Mirjam wiederzubegegnen. Denn wenn ich abends im Bett an sie dachte oder beim Dösen in der Schule, dann erschien sie mir gefährlich. Sie reizte mich und ließ mich dabei wie einen dummen Jungen aussehen. Und doch hätte mich eine Berührung von ihr glücklich gemacht. Für mich war es schwer, das zu verstehen, als ich dort stand und die hellen Tauben aus dem Himmel fielen, um im letzten Moment von den langen Palmenzweigen aufgefangen zu werden.
    Ich fragte mich auch, ob diese liebliche Natur ein Bild war für jene britische Ordnung, die das Ziel unseres Fortschritts sein sollte. Doch was hatte das alles zu tun mit den engen Gassen, die nach dem Schweiß der Lastenträger, Bratendunst und den Kloaken rochen? In den Park drang nicht einmal der Ruf des Muezzins, und selbst wenn er es getan hätte, er wäre in der Stille, im Rauschen der Blätter verklungen.
    Nach solchen Grübeleien stellte ich mir gern vor, wie Mirjam wohl nackt aussah. Ich fragte mich auch, wie weit sie gehen würde, wenn ich ihr ausgeliefert wäre. Schließlich deutete sie ständig an, zu Verbotenem bereit zu sein. Meinen nächsten Gedanken wagte ich kaum zu denken, und das machte ihn noch reizvoller. Sie hatte mich verrückt gemacht mit ihren leeren Versprechungen.
    Als ich den Qasr, den Palast, sah, konnte ich nicht glauben, dass Ezra darin wohnte und jeden Morgen erwachte. Dieses Haus hinter einer hohen Mauer und einem Spalier

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