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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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gegeben, und ich wusste, dass ich mich durch Fragen verdächtig machte.
    Immer wieder sagte ich mir: Ich muss nur abwarten, mein Vater wird kommen und mich hier herausholen. Um mir die Zeit zu vertreiben, fragte ich die Männer nach den Gründen für ihre Verhaftung. Doch niemand hatte ein Interesse oder auch nur die Kraft, ausführlich zu antworten. Mit müden Stimmen gaben sie ein paar Worte von sich. Sie waren allesamt Taschendiebe und Räuber, und jeder sagte, man habe ihn nur gefasst, weil er vom Hunger zu geschwächt war, um zu fliehen. Der Entstellte hockte über dem Eimer und entleerte sich glucksend. Ab und an lachte er kurz auf, wenn er die Geschichten der anderen hörte. Als er zurückkam, sagte er:
    »Redet euch nicht heraus. Ihr habt es verdient, hier zu sein, jeder Einzelne von euch.«
    »Und du? Warum bist du hier?«, platzte ich heraus.
    Der Mann trat mich gegen das Bein. »Du, Jüngelchen, bist frech«, sagte er. »Aber, gut: Ich habe es auch verdient.« Damit ging er wieder zu seinem Platz.
    Sie alle schienen auf etwas zu warten. Ich nahm an, dass ihnen irgendwann Essen gebracht werden würde. Der Boden war übersät von Flecken, die Reste von Mahlzeiten zu sein schienen. Als alle schwiegen, zählte ich die Sekunden und die Minuten. Das Tageslicht in der Luke wurde schwächer.
    Jeder der Männer um mich war so erschöpft, dass er unnötige Bewegungen vermied. Sie redeten nur wenig. Irgendwann erwähnte einer den Kletterer, da wurden einige lebendiger und ich fragte nach. Ich erfuhr, dass dieser Mann ganz sicher der geschickteste Räuber der Stadt war. Er konnte jede Mauer überwinden, mochte sie auch noch so hoch sein, und sogar die Hauswände hinaufsteigen. Diesmal hatten sie ihn endlich gefangen, weil er zu lange am Fenster einer schönen Frau gehangen hatte.
    »Er muss vernarrt gewesen sein in ihren Anblick. Sicher lag sie wie eine Prinzessin im Bett, denn sonst wäre ihm das nie passiert.«
    Ich hielt das für ein Märchen, glaubte, sie würden sich über mich lustig machen.
    »Sie war nackt«, sagte der Entstellte und grinste verzerrt. »Hoffentlich war sie nackt.«
    Alle kicherten und es klang, als täten sie es unter Schmerzen. »Und hoffentlich war sie nicht allein dabei«, fuhr der Mann fort, »denn der Preis ist hoch.«
    Wie hoch, erfuhr ich eine Stunde später. Die eiserne Tür zum Gang wurde aufgesperrt, und anfangs glaubte ich, nun wäre endlich mein Vater gekommen. Vor Freude konnte ich kaum noch stillsitzen. Gleich darauf machte mir ein unausgesetztes Wimmern klar, dass die Polizisten einen weiteren Gefangenen brachten. Das war der Kletterer. Sie schleiften ihn durch die Zelle in die Nähe des Eimers und legten ihn dort ab. Einer der Polizisten trat den Eimer um und die Brühe beschmutzte den Kopf des am Boden Liegenden.
    »Friss das, du Hundesohn«, sagte der andere Polizist beim Hinausgehen, verharrte kurz, blickte in die Runde und fügte an:
    »Wer seine Ration mit ihm teilt, kommt mit uns. Er isst nichts, bevor wir es sagen.«
    Damit verließen sie die Zelle. Ich hörte das Schloss einrasten und sah die beiden die Treppe hinaufsteigen. Dann blickte ich auf den schweratmenden Mann am Boden und all meine Ruhe war dahin. Die Geräusche, die er von sich gab, klangen wie das leise Winseln eines Hundes, unaufhörlich mischten sie sich in das Rasseln seines Atems. Alles, was ich jetzt noch fühlte, war nackte Angst, von tief innen her wurde mir kalt. Ich erstarrte und doch konnte ich keine weitere Minute mehr warten. So erhob ich mich auf die Knie und kroch durch die Kotlache zu dem dunklen Körper. Einer der Diebe hielt mich zurück.
    »Lass ihn«, sagte er, »wenn du ihn berührst, wird er schreien.«
    Sofort kroch ich zurück. Zitternd lehnte ich mich an die Wand. Eine Hand legte sich auf meinen Arm und jemand flüsterte:
    »Keine Angst, Junge, bei dir werden sie es nicht wagen. Das machen sie nur mit uns.«
    Plötzlich warf sich der Kletterer herum, schrie auf, spie Blut aus und winselte wieder. Ich fuhr zusammen und hielt den Atem an.
    »Hoffentlich war sie wenigstens nackt«, sagte der Entstellte leise und ich begann wieder zu atmen.
    Der dicke Polizist schob mich im Warteraum vor meinen Vater und wies auch gleich auf meine verschmutzten Hosen, wie um zu zeigen, in welchen Schlamassel ich geraten war. Ich schwieg, noch betäubt vom Licht und den Stimmen hier oben. Ezra hatte ich keines Blickes gewürdigt. Der Gedanke, dass er letztlich an allem schuld gewesen war, empörte mich.

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