Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
Vom Netzwerk:
für die ersten zwei Meter, verhielt kurz, um lautlos zu verschnaufen und bewegte sich dann weiter. Oben angekommen, griff er über die Mauer, zog sich hinauf und ließ die Beine baumeln. Kurz blickte er sich nach allen Seiten um, dann ließ er den Oberkörper zurücksinken und kletterte abwärts. Das dauerte sehr viel länger, da er die Unebenheiten mit den Zehen ertasten musste. Jede Bewegung in Richtung Boden war wohlüberlegt und vorsichtig ausgeführt. Maliks Wange lag an der Mauer, ich konnte sehen, wie seine herausgestreckte Zunge den Stein berührte. Aus etwa einem Meter Höhe stieß sich der Dieb ab und landete auf der Erde. Er schrie vor Schmerz leise auf und blieb am Boden hocken.
    »Was hast du gesehen?«, wisperte ich ihm zu.
    »Nicht viel. Sie schlafen in ihren Betten.« Dann fügte er an: »Aber deine Kleine, glaube ich, hat sich bewegt.« Er wartete. »Sie hatte ihre Hand zwischen den Beinen, ich hab’s genau erkennen können. Sie freut sich wohl schon auf ihren Bräutigam.«
    Ich wandte mich hastig ab und blickte die dunkle Straße entlang.
    »He, du hast sie wirklich gern, was?« Ächzend erhob sich Malik und lehnte sich an die Mauer. »Das ist eine schöne Gegend. Aber auch sehr einsam. Ich war noch nie hier.«
    »Warum eigentlich nicht?«
    »Ich hätte darauf gewettet, dass sie bezahlte Wächter haben. Aber anscheinend fühlen sie sich sicher.«
    Im Laufe dieser Nacht brachte mir Malik die Grundlagen seiner Kletterkunst bei. Was ich dafür tun musste, war ungeheuer anstrengend. Mir rann der Schweiß aus allen Poren, ich keuchte so laut, dass Malik mich pausieren lassen musste, um mich zur Ruhe zu bringen.
    »Wenn du dich so anstrengst, wirst du es nie lernen«, fuhr er mich flüsternd an. »Ich habe gesagt, du brauchst Kraft, nicht aber Gewalt.«
    Das war leichter gesagt als getan. Mir gelang es kaum, einen Meter in die Höhe zu kriechen, bevor ich von der Wand fiel wie ein totes Insekt. Doch Malik ließ nicht ab von seinen Unterweisungen. Immer wieder ließ er mich neue Versuche starten und schließlich, im Morgengrauen, klebte ich in zwei Metern Höhe an der Mauer, blickte nach oben und war bereit, weiterzusteigen. Doch ich verharrte, denn im Haus regte sich etwas. Jemand bewegte sich mit schweren Schritten durch den Raum, der an meine Hände grenzte. Und tatsächlich konnte ich das fühlen, vielleicht weil ich überreizt war durch die stundenlange Konzentration, die Malik mir abgefordert hatte, vielleicht aber auch, weil ich wirklich etwas gelernt hatte in dieser Nacht. Als die Geräusche sich legten, nahm ich noch ein paar Zentimeter, doch Malik befahl mir herunterzusteigen.
    »Du bist gut«, sagte er, »aber wir müssen noch üben.«
    »Ich konnte Bewegung an der Wand fühlen«, sagte ich.
    »Du wirst dich noch wundern, es ist eine ganz andere Welt da oben.«
    »Warum tust du das? Warum bringst es mir bei? Soll ich für dich stehlen gehen?«
    Malik winkte ab. »Für mich, für dich, für wen auch immer – du wirst es brauchen. Du bist jetzt mein Schüler.«
    »Warum ich?«, fragte ich erschöpft.
    »Nun, ich glaube, dir kann ich trauen. Du bist ein Zufallsfund.«
    In der Morgendämmerung gingen wir Seite an Seite die Straße entlang wie alte Freunde. Malik wollte mich bereits für den nächsten Tag wieder zu sich bestellen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich zur Schule müsse, da ich sonst Schwierigkeiten mit den Lehrern bekäme. Da legte mir der gefürchtete Malik den Arm um die Schulter und zog mich an sich.
    »Wozu willst du in die Schule gehen? Du kannst lesen, schreiben und rechnen. Alles, was sie dir von nun an beibringen, ist nutzlos. Ich lehre dich, was du wirklich brauchst.«
    »Wenn mein Vater dahinterkommt, wird er mich umbringen. Er wird mich totschlagen.«
    Malik blieb stehen, packte mich sanft am Kragen und sagte:
    »Schau in mein totes Auge: Er wird dir nichts tun.«
    Ich ließ mich nicht sofort darauf ein, wann immer ich konnte, ging ich zur Schule. Die Schwarzhemden allerdings hatten die Wandlung registriert, die mit mir vorgegangen war. Ihr Anführer, ein fetter Junge namens Fadil, ließ mich nicht mehr aus den Augen, weder im Unterricht noch in den Pausen. Ich wusste, dass er eine Entscheidung suchte. Normalerweise spielte er sich als Sittenwächter auf, kontrollierte die Kleidung der Mitschüler und bestrafte sie für vorgebliches Fehlverhalten. Er hatte eine Vorliebe für die Geschlechtsteile der von ihm ausgemachten Staatsfeinde. An ihnen drückte und zog er

Weitere Kostenlose Bücher