Ein weißes Land
Abenddämmerung.
»Der Mann am Ufer, gleich der Erste«, sagte Malik.
»Munjid?«
»Ja. Ich kenne ihn und er kennt mich. Sei vorsichtig, er spielt ein doppeltes Spiel.«
Das Wasser plätscherte beruhigend, wenn Abdel das Ruder hineinstieß. Ich fühlte mich schlecht, bereute, was ich getan hatte. Ich hasste meine Unwissenheit. Plötzlich fuhr Malik herum und zog mich zu sich.
»Schau in mein blindes Auge. Sie werden alle sterben, das ist gewiss. Sei immer aufmerksam, lass dich von niemandem blenden. Du musst schneller sein als sie und rechtzeitig verschwinden. Nur darauf kommt es an: den richtigen Moment zu erkennen. Du gehörst zu niemandem und niemand gehört zu dir. Diese Gewehre habe ich nicht herbeigezaubert. Sie haben einen Absender und ein Ziel, verstehst du?« Malik verstummte kurz. »Was ist mit dir?«
Ich schloss den Mund und in mein Gesicht kam wieder Bewegung.
Malik schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts, oder? Du verstehst nicht, wovon ich rede.«
»Doch«, sagte ich leise. »Aber ich habe Angst.«
»Das ist gut so. Du wirst lernen, mit ihr zu leben. Und sie wird dich wachsam halten.«
Ein Muezzin rief in der Ferne zum Gebet, nach und nach stimmten andere in seinen Ruf ein, es klang wie ein Wettstreit der Stimmen.
Malik lehnte sich zurück und betrachtete mich. »Aber du hast recht, du bist zu schwach. Ich werde dir noch ein paar Dinge beibringen müssen.«
Scheinbar gelangweilt blickte er in den Himmel hinauf. »Du hast mir von diesem Mädchen erzählt, erinnerst du dich? Was ist mit ihr?«
»Nichts, ich habe sie nicht wiedergesehen.«
»Aber du hast sie doch gern, oder?«
»Ihr Vater glaubt, ich würde seiner Familie Unglück bringen. Deshalb hat er mir verboten, sie zu sehen. Ich kann nichts tun. Aber es ist auch nicht so schlimm, ich weiß gar nicht, was ich von ihr wollte.«
»Ich weiß das schon.« Malik wartete auf meine Reaktion, die aber ausblieb. »Willst du sie sehen?«
Kalter Schrecken stieg in mir auf. Sollte es möglich sein, dass die Bande sie entführt hatte, dass Malik wusste, wo sie in diesem Augenblick war? Möglicherweise wollten sie Salomon erpressen. Ich sah das Bild der in einem dunklen Verlies eingesperrten Mirjam vor mir, mein Atem beschleunigte sich.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Ganz ruhig«, entgegnete Malik gelassen. »Deine Liebste ist zu Hause bei ihrer Familie und fragt sich, wie ihr Bräutigam wohl riechen wird, wenn er endlich zu ihr ins Bett kriecht. Du kleiner Idiot, ich will dir helfen.«
»Wie?«, fragte ich erleichtert.
»Willst du sie sehen?«
»Ja.«
»Dann komm jetzt mit mir. Sag mir, wo der alte Jude wohnt.«
Abdel brachte uns in die Nähe des Hauses und setzte uns am Ufer ab. Es war schon spät in der Nacht, als wir vor der dunklen, fensterlosen Hausmauer standen. Noch immer wusste ich nicht, was Malik vorhatte. Ich befürchtete, dass er einbrechen wollte, aber mit mir an seiner Seite war das Risiko offensichtlich viel zu hoch. Die Straße war still und leer, der Cadillac stand noch immer vor dem Gartentor wie an jenem Nachmittag, an dem wir unseren Ausflug unternommen hatten. Jetzt, verloren in dieser Nacht und mit meinem neuen Bundesgenossen, dachte ich wehmütig daran zurück.
Malik zog sich die Schuhe aus, legte beide Hände flach an die Mauer, verharrte und flüsterte.
»Das Wichtigste ist: Du musst leise sein. Du darfst nichts sagen, nicht schnaufen, und wenn du abrutschst, hältst du dich fest und bleibst für ein paar Atemzüge ganz still. Die Menschen sind dümmer als Tiere: Mehrere Geräusche hintereinander machen ihnen Angst, wenige in großen Abständen halten sie für Zufall.«
Ich blickte die Mauer hinauf und konnte kaum glauben, dass ich hier mit dem Dieb stand, während oben auf dem Dach Mirjams Familie schlief. Wieder ergriff mich Furcht.
»Wenn sie mich erwischen … sie kennen mich.«
»Ruhig. Wir tun nichts. Ich will dir nur etwas zeigen.« Malik stellte sich in Position. »Du musst jede Unebenheit der Wand nutzen. Mach dich ganz flach, klebe an den Steinen. Du musst Kraft haben, um hinaufzukommen. Atme ruhig, schau nicht nach unten und benutze deine Finger und Handgelenke.«
Damit begann er das Klettern. Bei dem, was ich nun sah, fiel es mir schwer, einen Laut des Erstaunens zu unterdrücken. Geschmeidig wie eine Eidechse schien Malik mit bloßer Körperkraft die Schwerkraft zu überwinden, Zug um Zug entfernte er sich aufwärts, es sah aus, als würde er gen Himmel kriechen. Er brauchte nur Sekunden
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