Ein weißes Land
hatte ich mich gefühlt wie ein Betrüger, der selbst seinem Freund ins Gesicht log. Oft, wenn ich nachts an den Mauern hing, innehielt und über die dunklen Dächer der Stadt blickte, fragte ich mich, ob ich ihn wirklich verschonen würde, wie ich es versprochen hatte. Meine Finger wurden zu Krallen am Gemäuer, mein Atem war flach durch die Anspannung meiner Muskeln. In diesen Augenblicken, frierend im Nachtwind und schwitzend vor Anstrengung, konnte ich mir die Frage stellen, ob ausgerechnet Ezra außerhalb meiner Verachtung war. Warum sollte es so sein? Was hatte er für mich getan? Er lebte sein Leben und hatte mich dabei irgendwann aufgelesen wie einen Spielkameraden. Nichts daran war wichtig.
Ich kroch weiter aufwärts, denn dabei konnte ich tiefer atmen. Wieder erstarrte ich. Malik war der einzige Mensch, der meiner Verachtung unter Umständen entgehen konnte. Ihm hätte ich ein Versprechen wie Ezra wirklich geben können – und mich daran gehalten. Nicht, dass er es verdient hätte, Mörder und Dieb, der er war. Aber darauf kam es nicht an. Ich verdankte ihm das Klettern. Er hätte all das, wozu er mich benutzte, auch bekommen können, ohne mir seine Kunst beizubringen. Warum hatte er es getan? Wollte er es weitergeben, weil er ahnte, wie alles enden würde? Ich traute ihm das ohne Weiteres zu. Es gibt Menschen, die sich nach Ehrlichkeit so sehr sehnen, dass sie im Laufe der Zeit alles von sich preisgeben. Und es gibt Menschen wie Malik, die im Grunde alles, was sie wissen, für sich behalten, die nie jemandem vertrauen und auf deren Wort kein Verlass ist. Dennoch, warum hatte er mir das Klettern beigebracht? Als Handlanger und Dieb brauchte er mich nicht. Ich glaube, er tat es, weil es das Einzige war, was er überhaupt geben konnte. Es war seine Art, mir etwas zu sagen.
Wenn ich oben war, kam es mir oft vor, als hätte ich die Zinnen einer düsteren Burg erreicht. Es geschah, dass ich mir vor Anstrengung in die Hosen pisste, und manchmal war ich erregt wie ein Liebhaber, der ein Weib umarmt. Ich presste mich gegen den kalten Stein, um wie er zu werden, indem die Wärme aus mir herausfloss. Ich setzte mich auf die Mauer und wandte den schlafenden Familien den Rücken zu. Sie waren immer da unter ihren Moskitonetzen und Stoffbaldachinen, aber sie interessierten mich nicht. Alles, was ich wollte, war, wie ein einsamer Wächter auf Mauern sitzen, die fremden Leuten gehörten. Sie wussten nichts von mir, doch es war egal, denn ich bestahl sie nicht. Ich war wie der Wind, der vom Fluss her durch die Gassen wehte, kurz in den Winkeln der Häuser heulte, um sogleich weiterzuziehen. Unter mir schlichen halbverhungerte Hunde durch die Straßen. Manchmal blickten sie zu mir herauf. Doch niemals schlug einer von ihnen an.
»Ich erzähle dir eine Geschichte über die Juden«, sagte Malik in verschwörerischem Ton. »Weißt du, warum sie so erfolgreich in ihren Geschäften sind?«
Ich verneinte und bezweifelte, dass ausgerechnet der Kletterer auf diese Frage eine Antwort hatte.
»Früher einmal war der Zuckerhandel in Bagdad fest in der Hand der Araber. Einige von ihnen waren auch Beduinen. Der Handel lief gut, Zucker braucht man immer, aber niemand wurde damit reich. Eines Tages begannen auch einige Juden, mit Zucker zu handeln. Nun gut, zunächst hatte niemand etwas dagegen, außer das Übliche, weil sie Konkurrenten waren. Sie hatten also plötzlich ihre Stände in der Shorjah, aber ansonsten schien alles beim Alten. Dann aber fingen die Leute an, ihren Zucker nur noch bei den Juden zu kaufen. Alle sammelten sich vor deren Shops, während die anderen kaum noch etwas loswurden.«
Er machte eine Pause, erhob sich und ging zum nahen Flussufer hinunter, um zu pinkeln. Das Lager der Bande war beinahe leer, Malik hatte jeden, außer Abdel und mich mit einem Auftrag fortgeschickt. Als er zurückkam, blieb er vor mir stehen.
»Der Grund dafür war simpel. Die arabischen Händler bekamen schnell heraus, dass die Juden ihren Zucker zu einem Preis verkauften, der weit unter dem lag, was sie für möglich hielten: Sie konnten dabei unmöglich Gewinn machen, das heißt, sie verschenkten ihren Zucker. Das beruhigte die arabischen Händler. Nun waren sie sicher, dass der Spuk nicht lange dauern konnte. Irgendwann mussten die Juden es begreifen und dann würden sie den Zuckerhandel einstellen. Aber es kam anders: Nach und nach verdrängten sie alle arabischen Händler. Anstatt das sinnlose Geschäft aufzugeben, expandierten
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