Ein weißes Land
lagen sie nebeneinander, jeder einzelne blutbesudelt und blass. Als Letzten warfen zwei Soldaten Malik dazu. Er lag auf dem Bauch und ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, wie er sich zu bewegen begann. Immer wieder griffen seine Hände abwechselnd in den Boden, er zog sich voran, bis sein Kopf an die Hauswand stieß. Doch seine Finger kamen nicht zur Ruhe, gruben sich nur tiefer in die Erde.
»Er will abhauen«, sagte Nidal amüsiert.
»Er klettert«, flüsterte ich und etwas in mir gefror.
»Du bleibst schön hier«, sagte Nidal und trat dem Kletterer auf die linke Hand, bevor er den Soldaten Zeichen gab.
Rasch wandte ich mich ab. Ich hatte all das hinter mir gelassen, hatte das Band zwischen Malik und mir zerschnitten und fühlte mich leer.
»Holt den Jungen heraus«, befahl Nidal und zündete sich eine Zigarette an.
Die Vögel sangen in den Bäumen, der warme Wind strich über den Hof und ich meinte, Spuren von Rauch darin riechen zu können. Ezra erschien und mit ihm der Rest der Familie. Die Mutter stürzte auf Nidal zu, fiel vor ihm auf die Knie und umklammerte seine Beine. Der Offizier blickte auf sie nieder und rauchte gleichmütig weiter. Schließlich beugte er sich zu ihr und schob sie von sich. Er wandte sich an Salomon und Ezra.
»Ihr habt wahrscheinlich auf die Engländer gewartet. Aber die werden nicht kommen. Sie stehen vor der Stadt und, glaubt mir, sie wissen, was hier geschieht.« Er trat nahe an Ezra heran. »Ihr solltet euch bessere Freunde suchen. Die Irgun hat eine Bande von Mördern aus Palästina losgeschickt. Sie wollen hier in Bagdad den Großmufti umbringen. Weißt du etwas darüber?«
Ezra wollte antworten, doch Nidal hob blitzschnell den Finger und hielt ihn nah vor sein Gesicht.
»Dies, mein Junge, wäre ein guter Zeitpunkt, ehrlich zu sein«, sagte er eindringlich. »Diese Zionisten haben viel Übung im Töten von Menschen. Aber jetzt sind sie hier, in unserem Land. Und auch du bist hier – mit deiner Familie. Überlege dir also gut, was du sagst.«
Ezra zögerte, sein Vater aber forderte ihn auf zu antworten. All seine Anspannung entlud sich nun, er wollte sogar auf seinen Sohn losgehen, doch Nidal hielt ihn zurück.
»Ich weiß nichts darüber«, sagte Ezra, »aber … «
»Was, aber?«, zischte Nidal.
Ezra blickte zu Boden. »Ephraim hat davon gesprochen, aber es war nur Gerede. Ephraim ist ein Narr, er redet ständig hochtrabendes Zeug.«
»Nein, diesmal war es mehr als das«, sagte Nidal befriedigt. »Was hat er gesagt?«
Ezra wand sich. Mirjam mischte sich, kühl und gefasst, wie es schien, ein.
»Ephraim ist dein Freund«, sagte sie, »sie werden ihn umbringen wie diese Männer hier … «
Der Schlag ihres Vaters traf sie mitten in der Rede und ließ sie verstummen. Sie hielt sich die Wange und wandte sich ab.
»Sollen sie sie töten«, sagte Salomon, »sie haben nichts anderes verdient. Antworte ihm«, fuhr er Ezra an.
»Er hat gesagt, die Irgun-Leute könnten, wenn sie aus Palästina nach Bagdad kämen, in seinem Viertel Unterschlupf finden. Niemand würde sie dort vermuten. Aber Ephraim ist kein Zionist, er ist Kommunist.«
»Ein Dummkopf ist er«, sagte Nidal und wies hinter sich zum Hoftor. »Das dort wird enden und dann sind wir alle noch hier. Denk darüber nach. Abmarsch.«
Auf sein Zeichen sammelten sich die Soldaten und verließen den Garten. Zu meiner Erleichterung nahm mich Nidal mit. Am demolierten Hoftor wandte er sich noch einmal um.
»Stellt etwas vor das Tor«, rief er. »Und begrabt die Toten. Die Blumen werden dann noch schöner sein im nächsten Jahr.«
9.
W eil ich so schmal war, wie Nidal sagte, konnte ich im Ge-
ländewagen mitfahren. Den ohrenbetäubenden Lärm des Truppentransporters hinter uns, fuhren wir durch die leeren Straßen aus Bataween hinaus. Je näher wir dem Stadtzentrum kamen, desto unwirklicher wurde, was durch die schmutzigen Scheiben zu sehen war. Horden von Menschen hatten sich zusammengerottet und zogen nur scheinbar ziellos durch die Straßen. In Wahrheit suchten sie Opfer, ich erkannte es daran, dass ihnen immer einige Männer vorausgingen und den Weg wiesen. Die Zerstörungswut war grenzenlos; Möbel, Kissen, Körbe und Kleidungsstücke lagen verstreut oder brannten in großen Haufen. Läden waren geplündert und angezündet worden. Verrenkte Tote lagen im Rinnstein, schmutzig und mit grotesk eingedrückten Köpfen. Wir fuhren an einem Bus vorbei, den eine Meute angehalten hatte, um darin nach Juden zu
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