Ein weißes Land
die steinerne Treppe in den Innenhof hinabsteigen. Ich hatte eine, vielleicht zwei Minuten Zeit, lief in Salomons Arbeitszimmer und griff nach dem Telefon. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein solches Gerät in der Hand gehabt, ich hielt den Hörer ans Ohr und wartete. Aus dem Rauschen und Knistern schälte sich nach endlosen Sekunden die Stimme der Vermittlung und ich nannte ihr die Adresse, die Nidal mir gegeben hatte. Ich war sicher, dass der Offizier zu den wenigen in Bagdad gehörte, die ein Telefon besaßen, und es war wahrscheinlich, dass er an diesem gefährlichen Tag bei seiner Familie blieb.
Nichts geschah, ich war mit dem Rauschen allein, umklammerte den Hörer mit beiden Händen und schaute zum Fenster hinaus auf den prachtvollen Garten und das Tor. Wenn ich Nidal nicht erreichen konnte, musste ich es öffnen. Ich stellte mir vor, was sie mit der Familie tun würden, da meldete sich erneut die Vermittlung und versank gleich darauf im Rauschen, das wiederum durchdrungen wurde von einem knarrenden Geräusch. Es dauerte lange, bevor sich tatsächlich leise eine Stimme meldete. Ich fragte sofort nach Nidal, sagte, es sei wichtig, und die Stimme antwortete, er sei am Apparat. Ich konnte vor Aufregung kaum sprechen, sammelte schließlich all meine Kraft und legte sie in ein paar Sätze, die alles erklären sollten.
»Ich hatte dir gesagt: noch in der Nacht«, erwiderte Nidal. »Wo warst du? Was soll ich jetzt tun?«
Es fiel mir schwer, die Ruhe zu bewahren.
»Er ist hier«, sagte ich, »und alle anderen auch. So leicht wird es nie wieder werden. Ihr braucht nur herzukommen, aber schnell.«
Wieder ertönte nichts als Rauschen aus dem Hörer. Nidal dachte offenkundig nach.
»Wo genau bist du?«, fragte er plötzlich entschlossen.
Ich beschrieb es ihm und sagte noch einmal, sie sollten sich unbedingt beeilen.
»Ja, ja. Wie viele sind es?«
»Sechs«, antwortete ich.
Ein Klicken sagte mir, dass der andere aufgelegt hatte. Ich nahm den Hörer vom Ohr und betrachtete ihn kurz wie etwas Lebendiges, das soeben in meinen Händen gestorben war. Dann legte ich ihn auf die Gabel.
Nidal brauchte Zeit, das war mir klar. Wenn ich das Tor jetzt öffnete, würden sie über die Familie herfallen, ging ich allein zurück, hatte ich es mit Malik zu tun. Ich musste Zeit gewinnen. Wieder suchte ich den Tisch und sogar den Boden nach einer brauchbaren Waffe ab, und wieder fand ich nichts. Ich legte die Hände auf das Gesicht und schluchzte wie ein Kind. »Was soll ich tun?«, sagte ich leise, doch ich begriff sogleich, dass ich die Antwort auf die Frage längst kannte. Nur die Angst hielt mich noch zurück. Ich gab mir einen Ruck und verließ den Raum.
Als ich die Treppe zum kühlen Innenhof hinunterstieg, glaubte ich kurz, die Familie hätte sich in den riesigen Tongefäßen versteckt, die in der Mitte des Hofes standen. Ich hatte davon gehört, dass man sie während der Sommerhitze mit Wasser füllte und sich hineinsetzte, gesehen hatte ich so etwas noch nie. Da vernahm ich das Schreien und Flehen der Mutter und die hastig hervorgestoßenen Worte des Vaters. Schritt um Schritt näherte ich mich dem Raum, hielt mich nah an der Wand, um zunächst sehen zu können, wo sich Malik befand.
»Ihr habt euer Zeug hier im Hof vergraben, ich weiß es. Wo?«, sagte der Kletterer ruhig. »Wir kitzeln es aus euch heraus.«
Ich holte das Rührholz hervor und spähte in den Vorratsraum. Malik hielt Mirjam fest an sich gedrückt, sein Messer lag unter ihrem Kinn. Seine freie Hand schob er langsam unter ihr Gewand. Mirjam stand still, hatte den Blick zur Decke gerichtet und nichts, nicht einmal ein Wimpernschlag regte sich an ihr. Salomon hob hilflos die Arme.
»Ah«, raunte Malik in Mirjams Ohr. »Sie ist glatt wie ein Pfirsich.« Er drängte ihren Kopf zu sich. »War die alte Hexe schon da, hat sie dir hier unten schon jedes Haar einzeln gezogen? Und du, hast du es genossen, wenn die kleine Schlinge dich berührte? Ja, du hast es genossen, so wie das hier, du kleine Hure, ich fühle es an meinen Fingern.«
Ezra sah mich, ich gab ihm ein Zeichen, sprang hervor und nutzte den Moment, in dem Malik zu ihm schaute. Ich stach ihm das Rührholz in sein gesundes Auge, während Ezra den Arm mit dem Messer packte und Mirjam befreite. Sie fiel nach vorn auf die Knie, Malik tobte und schrie und versuchte sich loszureißen. Doch wir hatten leichtes Spiel, brachten ihn zu Fall und schlugen auf ihn ein, bis er reglos liegenblieb.
»Wir sind
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