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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, wenn er seinen ältesten Sohn nicht hätte fortschicken wollen. Im Augenblick schien ihm selbst die Fremde sicherer als sein eigenes Land.
    Nidal ließ den Fahrer halten und stieg aus. Ich folgte ihm und meinte zu wissen, warum wir in die Altstadt gefahren waren.
    »Suchen wir Ephraim?«
    Die Soldaten sprangen aus dem Transporter und verteilten sich auf einem kleinen, müllübersäten Flecken Erde, auf dem vor nicht allzu langer Zeit noch ein Wagen oder gar ein Verschlag gestanden haben musste, denn der Boden war von tiefen Furchen durchzogen.
    »Den bekommen wir ohnehin«, sagte Nidal. »Aber nachschauen müssen wir doch, wenn er seinen Freunden aus Palästina die Wohnung anbietet.«
    Er gab den Männern ein Signal und langsam rückten sie vor. Die Straße, die sie abriegelten, war leer, doch seltsamer Lärm wurde von den Häusern ringsum zurückgeworfen. Es klang wie ferner Jubel und war befremdlich an diesem Ort. Wir erreichten einen kleinen Torbogen, vor dem die Straße sich verengte. Durch ihn hindurch drang das Stimmengewirr und Geschrei. Nidal zog den Revolver aus dem Halfter und näherte sich mit Umsicht. Obwohl er betrunken sein musste, wirkte alles, was er tat, höchst konzentriert. Er spähte durch den Torbogen und winkte die anderen schließlich heran.
    Der Platz war voller Menschen, die sich vor einem Haus versammelt hatten und hinaufblickten. Ich sah alte und junge Männer, sogar, etwas abseits, einige Frauen und Kinder. Sie waren sämtlich Muslime, mehrere Juden standen auf dem Dach des Hauses, beugten sich über die Mauer und riefen etwas Unverständliches in den Lärm hinein, als wollten sie die unten Stehenden warnen. Unter diesen waren Handgemenge ausgebrochen, mehrere Männer schlugen aufeinander ein und plötzlich tauchten sogar zwei Polizisten auf, die die Menge zerstreuen wollten, indem sie in die Luft schossen. Doch sie lösten nur einen Tumult aus, der die Massenschlägerei vor dem Haus heftiger werden ließ. Ganz offensichtlich verteidigten einige Muslime das Haus der Juden vor den Angreifern. Als nun die Schüsse fielen, verloren sie endgültig die Kontrolle über den Mob, der sie wie ein unförmiges, hungriges Lebewesen verschlang. Die hilflosen Ordnungshüter liefen am Rand umher, wollten die Frauen und Kinder vertreiben, doch nicht einmal das gelang ihnen.
    Plötzlich ertönte ein Aufschrei aus vielen Mündern, die Juden hatten den günstigsten Moment abgewartet und schütteten nun aus einem Bottich kochendes Wasser auf die Leute hinab. Wen es traf, der taumelte vor Schmerzen brüllend in die Meute, um sich schlagend, als hielte sie ihn gefangen. Als Nächstes warfen die drei jungen Männer Steine vom Dach, gefolgt von Möbelstücken und sogar Blechschalen.
    »Das Wasser kocht gleich wieder – gleich ist es fertig«, hörte ich sie rufen.
    »Ich kann dort hinaufklettern«, sagte ich rasch.
    »Allein?«, fragte Nidal.
    »Warum nicht, ich kenne Ephraim. Wenn er nicht da ist, wozu das Risiko mit all den Soldaten?«
    Nidal zuckte die Schultern. »Halt die Augen offen. Wenn du ihn findest, sag ihm nur, wir kommen ihn holen. Und sollte er Irgun-Leute oder andere ausländische Juden bei sich haben, kann ihm auch sein toter Gott nicht mehr helfen. Sag ihm, er soll an seine Sippe denken.«
    Ich schlich durch den Torbogen, hielt mich nahe der Hauswände und umging die Menge. Immer wieder blickte ich nach oben, um dem kochenden Wasser ausweichen zu können. Ein bulliger Mann entdeckte mich und stürmte heran. Ich blieb stehen, wartete und schlug ihm unter das Kinn auf den Hals. Gleich darauf verschwand ich in der Gasse neben dem Haus. Sie war nicht mehr als ein stinkender Schacht voller Tierkadaver und Gemüsereste. Hier schaute niemand herunter, und so begann ich an einer geeigneten Stelle zu klettern. Die Juden in dieser Gegend hatten Fenster in ihren Häusern, denn bei ihnen gab es nichts zu holen. Leider konnte Nidal nicht sehen, wie ich die Fenster wieselflink erreichte, in sie kroch, um von dort weiter aufzusteigen, bis ich oben auf der Mauer saß und Ephraim sah, der seine Leute befehligte.
    Klugerweise hielt er Abstand zum Rand und sorgte so dafür, dass man ihn von unten nicht sehen konnte. Mitten auf dem Dach brannte ein Feuer, viele Scheite lagen bereit, um es zu füttern, und der Bottich stand darin. Die jungen Männer gehorchten Ephraim aufs Wort. Sie hatten sich Stofffetzen um die Hände gewickelt, hoben den Bottich an, schleppten ihn zur

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