Ein weißes Land
suchen. Ich sah, wie Leute einen jungen Mann auf die Straße herauszerrten. Kaum einmal blickte einer von ihnen zu den Militärs, die an ihnen vorbeifuhren, niemand schien deren Einmischung zu erwarten.
Die Gegenwart des Todes versetzte mich in dumpfe Erregung, ich war aufmerksam und abgelenkt zugleich. Eine unerträgliche Anspannung ließ mich draußen immerfort nach neuen Bildern des Schreckens suchen, obwohl ich sie nicht sehen wollte. Ich wurde im Wagen hin und her geworfen, musste mich festhalten, um nicht mit dem Kopf gegen das Fenster zu schlagen und versuchte zu verstehen, was an diesem Tag geschehen war. Meine Augen brannten, als würden sie vom Tageslicht verletzt, Erschöpfung machte mich bleischwer, und doch ließ mir die eine Frage keine Ruhe.
»Warum?«, sagte ich zu Nidal.
»Warum was?«
»Malik. Warum?«
»Wenn ich dir das sage«, grinste Nidal, »muss ich dich auch umbringen. Willst du das?«
Ich legte die Hände vor die Augen. »Ich will nur wissen, warum. Ich verstehe es nicht.«
Nidal seufzte und trank aus einer flachen Metallflasche. Als ich die Hände vom Gesicht nahm, sagte er:
»Du musst nicht alles wissen.«
Draußen sah ich fünf junge Männer einen Greis erschlagen mit einer Schaufel, sie reichten sie einander von Hand zu Hand.
»Doch, ich muss es wissen«, sagte ich. »Ich habe ihn verraten.«
Der Wagen fuhr in eine Rauchwolke, so dicht, dass es dunkel wurde. Als wir hindurch waren, prallte etwas Schweres auf die Kühlerhaube und rutschte seitwärts zur Straße hinab. Ich sah eine brennende Hand hinter uns verschwinden, die Häuser ringsum standen in Flammen.
Nidal schlug dem Fahrer auf die Schulter zum Zeichen, mehr Gas zu geben. Dann ließ er sich in den Sitz zurückfallen, nahm erneut einen tiefen Schluck und blickte zu mir. Er schüttelte den Kopf.
»Du bist einer von uns, länger schon, als du denkst«, sagte er. »Erinnerst du dich an den toten Juden, den du vor langer Zeit zusammen mit deinem Freund gefunden hast? Am Bahndamm draußen, erinnerst du dich?«
»Ja«, erwiderte ich leise.
»Das war ein Auftrag, verstehst du, von mir, und er wurde gut ausgeführt, bis auf die Sache mit der Leiche. Die Wüste ist voll davon. Aber wer hätte wissen können, dass zwei Idioten wie ihr ausgerechnet diese aufsammeln und zurücktragen würden.« Er stieß Luft durch die Nase aus. »Immer, wenn so etwas geschieht, muss jemand dafür zahlen. Es ist wie eine offene Wunde, sie muss verschlossen werden.«
Ich sah die verwüsteten Marktstände, die ich selbst vor einigen Stunden markiert hatte. Plünderer schleppten turmhohe Beuteladungen auf ihren Rücken davon, wurden von anderen niedergerissen, schrien und schlugen um sich.
»Jeder tippte auf Malik. Sie haben das Geständnis ja auch aus ihm herausgeprügelt. Und zum Dank dafür, dass er dennoch freigelassen wurde, arbeitete er von da an auch für uns.« Der Whisky ließ Nidal vergnügt lachen, er trank die Flasche leer und sagte nicht ohne Stolz: »Bei dir war ich mir nicht so sicher, ich wollte dich bei mir haben. Zum Glück kannte dich Fadil.«
Ich versuchte mich an alles zu erinnern, doch es fiel mir schwer beim Anblick eines qualmenden, rauchgeschwärzten Fensters, von dem herab die helle Gestalt einer Frau hing und sich wie eine Puppe um sich selbst drehte. Ihr offener Mund kreiste, ihre Arme ruderten. Ein lachender Mann hielt sie an ihrem langen Haarschopf, doch kurz nur, dann löste sich der Körper mit einem Ruck und verschwand inmitten der Trümmerhaufen auf der Straße.
»Es war ein Zufall«, stammelte ich, »Malik kannte mich nicht.«
»Irrtum. Auf der Demonstration warst du nie allein. Niemand in diesem Land ist allein. Du bist direkt in Maliks Arme gefallen.«
»Und der Beduine?«, fragte ich erschöpft.
»Wer konnte ahnen, dass in dir ein Mörder steckt. Malik hatte genug Zeit zu verschwinden, lebendig war er mir zu gefährlich.«
»Wohin hätte er schon gehen können?«, sagte ich leise.
Der Wagen fuhr sehr langsam, denn am Straßenrand war eine Gruppe junger Männer damit beschäftigt, eine Grube auszuheben. Der Wind wehte Unmengen versengten Papiers auf, wie ein heller, schwankender Turm erhoben sich die Fetzen in der Mittagsluft. Schreie gellten, doch es waren nicht die der Opfer. Diese knieten mit gesenkten Köpfen am Rand ihres Grabes, zwei hellhäutige Talmudschüler mit schütterem Bartflaum, keine zwanzig Jahre alt. Hinter ihnen stand ein dicker, schweratmender Mann, die Hände übereinandergelegt auf
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