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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Bauwerke, die irgendwann jemand aus der Erde grub und nach Europa transportierte. Hier, in Berlin, in einem Museum am Wasser, so hatte man uns gesagt, stand eines der eindrucksvollsten Baudenkmäler aus der Heimat. Die Deutschen hatten es hergebracht und stellten es nun aus, als wäre es ihr Werk. Was wollten sie zeigen? Bezog sich ihr Stolz darauf, fähig gewesen zu sein, diesen Transport zu meistern? Ich hatte den Großmufti danach gefragt, weil ich auf die Frage keine Antwort fand. Er hatte aufmerksam zugehört, kurz darüber nachgedacht und mit einem Lächeln geantwortet:
    »Nein, nicht das ist es, worauf sie stolz sind. Ihr Stolz besteht darin, die Geschichte zu kennen, viel besser als wir, die wir die ganze Zeit darauf herumgelaufen sind, ohne zu wissen, was sich unter der Erde befand. Das ist ihr Vorteil: Die Europäer kennen die Geschichte, und darum können sie sie ändern. Was für uns ein unaufhörlich sich drehendes Rad ist, das können sie anhalten, indem sie nur fest genug in die Speichen greifen. Sie können es nehmen und so ausrichten, wie es für sie weiterlaufen soll.«
    Ich war beeindruckt. Normalerweise wagte ich nur eine Frage zu stellen, doch die Situation war gerade günstig, so dass ich nachsetzte:
    »Und wir? Geben wir ihnen alles, was sie wollen?«
    Der Großmufti lehnte sich zurück und legte vor seinem Gesicht die Hände aneinander.
    »Wir können nicht darauf warten, bis wir selbst so weit gekommen sind. Du kennst unsere Leute, du weißt, wie viele von ihnen Analphabeten sind. Wir müssen uns auf die Seite von Stärkeren stellen. Die Juden tun es genauso mit den Engländern. Sie haben verstanden, dass sie ihre eigene Sache nur befördern können, wenn sie die Kraft von anderen nutzen.«
    Der Gedanke an die Geschichte trieb mich weiter um. Alles, was ich bis jetzt erfahren konnte, bedeutete ja, dass die Deutschen das Ruder herumgerissen und sich gegen die bisherige Weltordnung erhoben hatten. Wie aber konnte diese Kraft aus etwas Altem entstehen?
    Durch die Tropfenbahnen am Fenster sah ich ein älteres Ehepaar, beide in dicken Mänteln, an den Ärmeln aufgenähte Judensterne. Einen Pogrom wie in Bagdad hatte es auch hier gegeben, wusste ich, doch nichts wies mehr darauf hin. Ganz sicher spielten die Juden eine entscheidende Rolle in dem gewaltigen Kampf, der sich fern von uns abspielte. Die Reden und Vorträge des Großmuftis handelten ständig von ihnen und von der Gefahr, die sie darstellten. Und doch verstand ich den Zusammenhang nicht. Ich dachte an Ezra und Ephraim und an das jüdische Viertel von Bagdad. Du bist zu dumm, sagte ich mir, du hast so viele Fragen, niemand findet die Zeit, sie dir alle zu beantworten.
    Ich selbst bekam den Führer nie zu sehen. Wenn auch erfüllt von der Bedeutsamkeit des Augenblicks, musste ich doch im Hof der Fahrer warten, bis der Empfang vorüber war. Ich sah noch die leere Voss-Straße und die am Wagenfenster vorüberziehende lange und schmucklose Fassade der Neuen Reichskanzlei mit dem Westportal, dann begann meine allmähliche Ernüchterung. Für mich gab es keine Begegnung mit der Geschichte, stattdessen musste ich mir die Zeit mit Fadil vertreiben. Es war Nachmittag, der kahle Hof war feucht vom Regen, in der Luft lag der Geruch der warmen Motoren.
    Fadil war verunsichert, weil die deutschen Fahrer der Eskorte ständig zu uns herübersahen, doch nicht mit uns sprachen. Ich ignorierte sie, so gut ich konnte. Noch nach Wochen war es mir unangenehm, von den Deutschen gemustert zu werden. Immer hatte ich das Gefühl, ihnen ausweichen, ja, mich vor ihnen verstecken zu müssen. Ich ging nur sehr selten ins Freie. Auf der Straße fühlte ich mich klein und niedrig, von der Fremde zusammengepresst. Sogar meine Hände zitterten und wenn ich umherschaute, wusste ich nicht, worauf ich den Blick richten sollte. Durch alles blickte ich hindurch, als hätte es keine Substanz. Mein Platz war in der Nähe meiner Leute, ich hing am Gefolge des Großmuftis wie ein Ertrinkender an seiner Holzplanke; die Türschwelle vor dem Zimmer meines Herrn war mein Winkel, und obwohl ich dort nicht bequem lag und auch sehr oft fror, so fühlte ich mich doch nur dort sicher.
    Die Fahrer saßen in den offenen Wagen und unterhielten sich lautstark. Jeder von ihnen hatte eine Blechdose bei sich, die er nun, nachdem Ruhe eingekehrt war, genussvoll umständlich öffnete, um den Inhalt zu inspizieren. Einer drehte die Dose, ein anderer legte den Kopf auf die Seite und schaute

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