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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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vertraute ich seinen Worten, während ich oft Mühe hatte, den kalten, wohldurchdachten Reden unseres Herrn zu folgen.

2.
    A llgemeine Unruhe entstand, als Rashid Ali in Berlin ankam,
jener Mann, den ich kannte, seit ich seine Papiere vor dem Haus des Großmuftis in Bagdad eingesammelt hatte. Der Oberst war gezwungen gewesen, einige Zeit in der Türkei zu verbringen, bevor er seine Flucht fortsetzen konnte. Nun endlich hatte auch er das Ziel erreicht, und die Deutschen quartierten ihn vorübergehend in der Villa ein. Es verstand sich von selbst, dass ihm ein eindrucksvoller Empfang bereitet wurde. Der Großmufti ließ es sich nicht nehmen, Rashid Ali und sein Gefolge wie ein Regent auf der Treppe des Anwesens zu erwarten. Als die Wagen am Brunnen hielten und die Männer ausstiegen, breitete er die Arme aus und hieß jeden Einzelnen von ihnen willkommen. Im Salon war eine Festtafel vorbereitet worden, es gab ausnahmsweise alkoholische Getränke, und ein ganzer Trakt des Gebäudes stand von nun an den Gästen zur Verfügung.
    Das Wiedersehen wurde einen fröhlichen Abend lang gefeiert. Beide Männer erzählten ausführlich von den Abenteuern ihrer Fluchten, sogar die Sekretäre, die Leibwächter und Diener wurden einbezogen. Ich versäumte nicht, den Gast an unser zufälliges Zusammentreffen in Bagdad zu erinnern, und der Oberst schien mich tatsächlich wiederzuerkennen und glücklich darüber zu sein. Als ich in sein gerötetes Gesicht sah, begriff ich, wie gut es mir tat, überhaupt bemerkt zu werden. Auch registrierte ich das eingefrorene Lächeln und den stechend auf mich gerichteten Blick meines Herrn. Noch spät in der Nacht standen wir frierend im Garten und blickten über den dunklen Waldsee zum gegenüberliegenden, von Schilf und hohen Bäumen bestandenen Ufer.
    Am nächsten Morgen zitierte mich der Großmufti ins Büro. Er schickte seine Sekretäre hinaus, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Hände zusammen.
    »Höre«, sagte er eindringlich, »ich weiß nicht, wer du bist.«
    Ich fühlte meine Schwäche im Angesicht dieses Mannes, wusste nichts darauf zu sagen, wollte aber auch nicht schweigen wie ein bockiger Junge.
    »Ich verstehe nicht«, flüsterte ich.
    Der Großmufti lehnte sich zurück und blickte zugleich nachdenklich und misstrauisch.
    »Du weißt, wie sehr ich Loyalität schätze. Sie ist etwas Wertvolles. Man kann jederzeit Leute finden, die bereit sind, Arbeiten zu übernehmen und sogar eine Waffe zu tragen. Aber man weiß nie, wer sie sind. Ich habe viele Feinde und möchte, dass sie außerhalb dieser Mauern bleiben. Verstehst du das? Gut. Unser Gast ist nicht unser Freund.« Er hob die Arme. »Du kannst dich ihm anschließen, wenn du willst.«
    Ich schüttelte heftig den Kopf.
    »Du bist noch jung«, fuhr er fort. »Dennoch solltest du dir darüber Gedanken machen, auf wessen Seite du stehst. Und nun geh.«
    Als ich wieder allein war, dachte ich über die Worte des Großmuftis nach. Ich verstand sie als Warnung und schwor mir, nie wieder so offen Sympathien für jemand anderen zu zeigen. Ich war wütend und zieh mich selbst im Stillen des Verrats; das tat mir wohl.
    Am Ende jenes ereignisreichen Monats wurde mein Herr vom Führer empfangen. Obwohl es nur eine lächerlich kurze Strecke war, fuhren wir im Wagen mit Eskorte zur Neuen Reichskanzlei. Es ging im Schritttempo voran, mich machte die Anspannung vor diesem besonderen Ereignis nervös. Dies sei eine Begegnung mit der Geschichte, hatte Abu Hashim im Vorbeigehen verlauten lassen.
    Ich grübelte lange über diesen Satz. Es schien mir, als läge in diesem Wort »Geschichte« die Erklärung für vieles, was ich hier nicht verstand. Ich wunderte mich nicht darüber, denn das meiste war so ungeheuer viel größer als alles, was ich in meinem Leben bisher kennengelernt hatte, dass ich niemals ernsthaft geglaubt hatte, auch nur einen Teil davon zu begreifen. Doch war mit mir eine Wandlung vor sich gegangen; die magnetische Kraft, die mich hierhergebracht hatte, wirkte noch immer und zog mich ins Unbekannte.
    Ich blickte aus dem Wagenfenster, sah den grau verhangenen Himmel und die wieder regennassen Straßen, die geduckt voraneilenden Menschen und Gruppen von Soldaten in Regenmänteln. Außer ein paar Dingen aus den Schulbüchern fiel mir zur Geschichte nichts ein. Doch schien sie einen Sog zu erzeugen für jeden, der etwas von ihr wusste. Für mich stellte sie nicht viel mehr dar als zurückgelassene steinerne Bildnisse und

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