Ein weißes Land
Land. Wenn die Leute nicht wissen, wer ihr seid, könnt ihr verhaftet werden. Gebt also acht darauf.«
Er überreichte uns die beiden aufklappbaren Karten und schon in dem Augenblick, da ich meine in der Hand hielt, überkam mich die Furcht, sie zu verlieren. Noch nie hatte ich ein Papier besessen, von dem mein Schicksal abhing. Ich klappte die Karte auf, sah mein seltsam ernstes, winziges Gesicht auf dem Foto und daneben wie Schmutzflecke meine Fingerabdrücke. Jetzt war ich jemand, ich konnte diese Karte hochhalten und andere würden wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Es war ein Stück Pappe, das mich mit der verborgenen Verwaltung des Reiches verband. Ich sah die breiten, offenen Straßen der Stadt mit anderen Augen, nachdem ich den Ausweis eingesteckt hatte: Sie wurden bewacht.
Mein Herr bewohnte nicht nur die Suite im Hotel, sondern dazu noch eine Villa in jenem Teil Berlins, der Zehlendorf genannt wird. Die Stadt wirkte hier beinahe ländlich, lange, schnurgerade Straßen führten vorbei an Grundstücken mit von Hecken und Bäumen wohlverborgenen, geräumigen Häusern. Die Villa erreichte man durch ein schmales Tor und einen zu beiden Seiten dichtbewachsenen Weg, der sich zum Vorplatz hin verbreiterte. In der Mitte erhob sich ein kreisrunder Brunnen, der mich sofort beeindruckte. Zu gegebenem Anlass wurde das Wasser eingeschaltet und eine Fontäne schoss daraus empor. Der Überfluss an Wasser, die Krumme Lanke nicht weit von hier und der geheimnisvoll stille Waldsee gleich hinter dem Haus, all das ließ mich unwillkürlich an die glühend heißen Sommer in Bagdad denken, an den flirrenden Steppenboden vor der Stadt und die Labung, welche jedes Bad im Tigris bedeutete. Die Villa konnte sich messen mit dem Palast der Golans, der Treppenaufgang wirkte zwar beinahe bescheiden, doch der Empfangssaal war imposant.
Der Geruch von feuchter Erde, die Verschwiegenheit des Ortes und die Novemberkälte beunruhigten mich. Ich war erstaunt über ein Schicksal, das mich aus dem Tumult von Bagdad herauskatapultiert und in weitem Bogen durch die Luft in diese menschenarme und trotz des bereits fallenden Laubes grüne Welt geworfen hatte. So lebt man hier, dachte ich, als ich mich auf der Treppe noch einmal umwandte, in versteckten Palästen und immer im Schutz der Bäume.
Nicht nur für mich war die Gastfreundschaft, welche die Deutschen dem Großmufti zuteil werden ließen, ein Zeichen für dessen Bedeutung in der Welt. Hinzu kamen noch die ständigen Besuche durch wichtige Persönlichkeiten der Politik. Ich kannte niemanden von ihnen, doch wurde von Fadil zuverlässig informiert. Die Herren kamen häufig in schmucken Uniformen mit seltsamen Hoheitszeichen, sie trugen Reiterhosen und schwarze Stiefel. Manchmal salutierten sie vor dem Großmufti, kurz bevor sie den Hitlergruß zeigten, um ihm sodann die Hand zu schütteln. Das wirkte unentschlossen, so als hätten sie zu viel auf einmal lernen müssen und wären ständig in Gefahr, die Reihenfolge durcheinanderzubringen.
Und doch war das Soldatische an ihnen, diese Mischung aus Strenge und Zuverlässigkeit, von besonderem Reiz. Ich träumte davon, ebenfalls eine solche Uniform zu tragen, und der Gedanke, mich selbst dabei aufzugeben, schreckte mich nicht. Wenn diese Leute die Zukunft in ihren Händen hielten, wenn sie tatsächlich gewagt hatten, die Welt aus den Angeln zu heben, dann wollte ich zu ihnen gehören. Mein Wunsch danach wurde so stark, dass ich mich in den Nächten, frierend und halb schlafend, auf der Türschwelle hineinfantasierte in ein Reich aus uniformierten Helden, die schwere Ledermäntel von sich warfen und im Bewusstsein ihrer Bedeutsamkeit alle Hindernisse überwanden. Es bedurfte nicht der oftmals wie Predigten vorgetragenen Lageanalysen des Großmuftis, um mich zu begeistern.
Die Besprechungen fanden meist in dem Raum statt, in dem auch die Gäste empfangen wurden. Es war ein im orientalischen Stil eingerichteter Salon der Villa. Hier gab es neben den landesüblichen Sesseln auch große Sitzkissen, luxuriöse Wasserpfeifen und an den Wänden teure Teppiche. Es wirkte wie eine Nachahmung orientalischer Üppigkeit. So lag ein prächtiger Koran neben dem Diwan und ein im Dämmerlicht geradezu funkelnd rubinroter Gebetsteppich musste jedem, der den Raum betrat, ins Auge fallen und ihn dazu zwingen, seine Schritte mit Bedacht zu setzen. Mein Herr achtete dennoch streng darauf, dass sich nirgendwo Anzeichen von Dekadenz fanden; die Wasserpfeifen waren
Weitere Kostenlose Bücher