Ein weißes Land
Buch gelesen, da kam Bagdad drin vor.« Er nahm die Mütze ab und legte die Hand an die Stirn, als spiele er einen Nachdenklichen. »Harun al-Rashid«, sagte er dann und lachte beglückt. »Der war es, über den hab ich gelesen. Kennst du ihn?«
Ich lächelte und sagte, er sei vor langer Zeit ein Kalif gewesen.
»Aber in Bagdad«, stellte der Fahrer fest. »Wie ist es da jetzt? Gibt es noch Kalifen?«
»Nein«, sagte ich.
»Und euer Chef, wer ist der?«
»Er ist der Großmufti von Jerusalem, er kommt aus Palästina.«
»Ah«, machte der Fahrer und blickte in die Runde, »das ist der, den die Engländer rausgeworfen haben. Und heute trifft er den Führer?«
Ich bestätigte es und fügte an: »Er trifft die Geschichte.«
»Na, das kann man wohl sagen«, brummte der Witzbold. »Für so einen muss das ja wie Weihnachten und sonst was zugleich sein. Also, der muss doch denken, ich bin sonst wer, dass ich den Führer treffe und der auch noch mit mir redet. Ist das der mit der weißen Mütze?«
»Das ist keine Mütze«, brummte sein Kollege verärgert, »das ist ein Turban.«
»Turban, Mütze – wo ist da der Unterschied? Jedenfalls ist das Ding weiß, oder?«
Fadil stieß mich in die Seite. Er wollte, dass ich die Deutschen frage, wie kalt es hier im Winter werden würde, und ich tat es.
Es würde sehr kalt, sagten sie, Schnee meterhoch auf den Straßen, vor allem im Januar und im Februar. Es machte ihnen Spaß, die beiden Fremden zu beunruhigen. Sie legten die Hände an die Schultern und taten, als ob sie bibberten.
Fadil wandte sich ab. Die Novemberkälte, der graue Himmel und der viele Regen machten ihm bereits so zu schaffen, dass er an Schnee einfach nicht glauben wollte.
Es dämmerte, als der Befehl zum Aufbruch kam. Gerade noch hatte ich wie schon öfter zuvor den beeindruckenden Himmel über der Stadt bewundert. Gegen Abend zeigte er die erstaunlichsten Muster, Schichtungen von kleinen Wolken wie herausgezupfte und verstreute Fellstücke, aufleuchtend in einem milden Licht.
Besonders mochte ich den unwirklichen Schein der Straßenlaternen in der Dämmerung. So auch diesmal wieder, als wir zum Ehrenhof fuhren und dort kurz noch warten mussten, bis der Großmufti sich von allen seinen Gastgebern verabschiedet hatte. Vielleicht beendete er gerade die Besichtigung, vielleicht auch hatte er in jenem Hof hinter den geöffneten Toren schon längere Zeit verweilt, jedenfalls wirkte er entspannt und heiter. Ich bestaunte die eindrucksvolle Beleuchtung, die den Ehrenhof gewaltig und tief wirken ließ. Hohe, dunkle Fenster umringten ihn drohend, zwei überlebensgroße nackte Bronzemänner ragten zuseiten des gegenüberliegenden Tores auf, darüber leuchtete ein riesiger goldener Reichsadler. Der Führer war nirgends zu sehen.
Im Hotel wurde es noch ein langer Abend. Der Großmufti stand ganz im Bann der zurückliegenden Begegnung, kam nicht recht zur Ruhe und wollte sein Gefolge um sich haben. So saßen seine Frau, die Sekretäre und Berater mit ihm im Salon und sogar Fadil und ich standen in den Ecken und lauschten, als er die Gedanken und Pläne des Führers in seinen Worten beschrieb.
Obwohl der deutsche Vormarsch in der Sowjetunion durch den Wintereinbruch ins Stocken geraten war, war er doch ungeheuer erfolgreich gewesen. Es habe, versicherte der Großmufti, in der Geschichte der Menschheit noch nie so große Geländegewinne in so kurzer Zeit und mit so vielen Kriegsgefangenen gegeben: Kiew und Minsk seien erobert und Leningrad eingeschlossen. Mit der nächsten Frühjahrsoffensive würde das bolschewistische Regime zusammenbrechen. Das aber sei der schwerste Schlag gegen das Judentum, den man sich denken könne. Denn der Bolschewismus sei ja nichts anderes als ein Instrument der Juden zur Eroberung Europas. Wohin immer sie kämen, in ein Dorf, eine Stadt, ein Land, setzten sie sich fest, um sich dann auszubreiten, wie sie es in Palästina täten. Immer gewönnen sie mächtige Unterstützer für sich, die glaubten, sie benutzen zu können, und in Wahrheit von ihnen benutzt würden. Diese Infektion des Geistes und der Welt an der Quelle auszubrennen, habe allein Hitler die Macht, und er sei im Begriff, es zu tun. Überall im Osten vernichte er die Juden und niemand könne ihn aufhalten.
»Wir«, sagte der Großmufti und hob die Arme, »müssen nur zusammenhalten und ausharren. Ich weiß, es ist nicht leicht, wir sind in der Fremde. Aber es ist nur eine Übergangszeit, bis die Macht unserer Feinde
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