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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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dann wären Tallhovers abgelagerte Erfahrungen zum Zuge gekommen: »Die Tagebücher sind, richtig gelesen, ne Fundgrube. Wie wir mußten Sie bestimmten Anweisungen der Regierung Manteuffel folgen. Ihr Freund und Gönner Merckel, dem die Nachwelt den oft bestätigten Reim ›Gegen Demokraten helfen nur Soldaten‹ verdankt. hatte Sie, trotz unserer Bedenken, nach London geschickt. Danach hatte Sie ein gewisser Metzel unter Aufsicht. Aber auch der konnte beim Regierungswechsel nicht alles vertuschen. Zum Beispiel Ihre Schmiergeldaktionen. Die an den Besitzer des ›Morning Chronicle‹ gezahlte Stillhaltesumme in Höhe von jährlich zweitausend Talern ist belegt, selbst wenn sich Ihre Biographen, Reuter eingeschlossen, drumrum schummeln wollten. Angeblich ist keine Zahlung quittiert worden.«
    »Sie übertreiben, Herr Polizeirat Tallhover! Oder können noch immer nicht zugeben, daß ich, wenn keine Null, dann eine Fehlbesetzung gewesen bin. Klappte nicht mit dem Kauf der Zeitung … Berlin war zu geizig … Mußte Glover und Bernstorff enttäuschen …«
    »… Weil es Ihnen an Ausdauer fehlte. Schon Ihre erste Englandreise hätte, wenn nicht uns, dann der Centralpressestelle in der Leipziger Straße die Augen öffnen müssen. Doch ne affige Liebe zur Literatur hat Merckels Blick getrübt …«
    »Unsinn! Waren doch selbst vor Ort. Hätten erkennen müssen, wie ungeeignet ich war …«
»Eine zu kurze Inspektionsreise. Mußte mich um Marx und Konsorten kümmern. Nichts klappte. Ging nem gefälschten Protokollbuch auf den Leim. Lief unruhig durch Soho, durchs Nuttenviertel. Von der Gerrard Street zur Dean Street. Aber nur schnell an besagtem Haus vorbei. Wir mußten, wenn irgend möglich, die Partei Marx meiden. Außerdem war Freiligrath in London. Hatte sich rechtzeitig vom Kölner Kommunistenprozeß abseilen können. Einzig darum ging’s, während Sie nur ein kleiner Fisch, der allerdings nach heutiger Moral erledigt wäre. Ein Fall fürs Feuilleton! Schonungslos demaskiert. Der Unsterbliche hatte Dreck am Stecken. An den Pranger gestellt! Da kennen die nix, Fonty. Denn wenn man heute nachdrucken oder zitieren würde, wie Sie Ihren erklärten Feind, den Premierminister Lord Palmerston …«
»… den meine Artikel in der Kreuzzeitung nicht haben stürzen können, so tendenziös zugespitzt sie waren. Ausgerechnet ich mußte englandfeindlich mit Tinte spritzen. Dabei war London besser als Berlin. Was sagt das schon: zwei Millionenstädte, wenn man Vergleiche zieht. Dort wagemutige, auf Gewinn setzende Weltbürger, hier pfennigfuchsende Kleinstädterei. Trockener Humor an der Themse, gehässiger Witz an der Spree. Mich jedenfalls hat Berlin gelähmt und London gebildet, auch wenn ich keinen Schimmer von Marx und Konsorten hatte. Der kam nicht vor. Können Sie nachblättern. Selbst von Hegel schwante mir nichts … Hatte Mühe genug mit Kant … Allenfalls Schopenhauer … War nicht nur in Philosophie, nein überhaupt ahnungslos. Begriff kaum, was ich in London zu leisten hatte und in welche Malaise mich die Manteuffelei bringen würde …«
»Sie wußten, von wem Sie bezahlt wurden.«
»Schlecht genug, Tallhover! Schlecht genug!«
»Und die deutschen Emigranten wußten gleichfalls, in wessen Sold Sie standen. Geschnitten hat man Sie. Sogar Max Müller blieb reserviert. Für nen Spitzel hat man Sie gehalten, der gegen Buchers antipreußische Polemiken agitiert und versucht hat, Schlesingers ›Englischer Correspondenz‹ das Wasser abzugraben, was nicht gelang …«
»Sag ich ja: War eine Fehlinvestition!«
»… und sind bald nach dem Sturz der ManteuffelRegierung gänzlich wertlos geworden, für uns jedenfalls. Deshalb der Versuch, diese Lappalien zu löschen. Nicht gründlich genug, wie wir wissen. Irgend etwas bleibt immer unversorgt liegen …« Beide saßen mit gestreckten Beinen. Jeder in eine Sofaecke gedrückt. Fonty schaute auf seine Schnürschuhe. Hoftaller hatte sich auf seine Schnallenschuhe konzentriert.
Sie hingen Gedanken nach, die sich womöglich auf Londons Straßen ergingen, sei es in Soho, sei es in Camden Town. Überall viel Betrieb und Gedränge. Sie saßen versunken. Zwischen ihnen ein Loch.
Jedenfalls war die Holzfassung der Sofalehne mit ihren drei Schwüngen für mehr als zwei Personen breit. Ein Möbel der Gründerjahre, dessen Bezug einmal weinrot gewesen sein mochte. Durchgesessen und abgewetzt, war ihm nur wenig bestimmbare Farbe geblieben. Des Sofas Beine wie von August Bebel gedrechselt.

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