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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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andere Weise trostlos wirkt, sah es freilich übel aus. Ganze Reihen von Häusern ragten nur noch mit ihren Feueressen auf. Und auch hier kamen uns Kinder mit Erinnerungsstücken entgegen. Ein ganzer Basar wurde ausgebreitet: Federbüsche, Käppis, Doppeladler, Schärpen mit und ohne Blut. Tempi passati! Diesmal keine Kinder. Und wenn, dann liefen sie weg, voller Schrecken. Doch die Landschaft noch immer groß. Welch prächtiges Panorama. Nach links hin der glitzernde Streifen der Elbe und unmittelbar dahinter die hohen Türme von Königgrätz! Das alles, Herr Hauptkommissar, ist heute noch ahnbar, wenngleich die Zeit, so die gegenwärtige Kriegszeit, darüber hinweggegangen ist. Habe aber dennoch in meinem Bericht das Vergangene beleben und der Gegenwart als mächtigen Kraftstrom zuleiten können. Bin gespannt, was mein Oberst dazu sagen wird. Schließlich liegt einer seiner Vorfahren mit vielen gemeinsam auf der Höhe von Chlum begraben: ein Leutnant von Maltzahn, blutjung wie all die anderen …« Im vierten Stockwerk des Reichsluftfahrtministeriums verließ der Kriegsberichterstatter den Paternoster und suchte seinen Vorgesetzten auf Der schätzte Fonty und dessen geschickte Aussparungen. Mit ihm, der als belesen galt, sind Plauderstündchen im Dienstraum, aber auch im Paternoster vorstellbar. So könnte der junge Wuttke den Oberst während eines längeren, über die Wendemarken hinwegführenden Gespräches darauf aufmerksam gemacht haben, daß die Gestalt des Grafen Holk aus »Unwiederbringlich« und dessen Kopenhagener Affäre mit einer gewissen Ebba von Rosenberg Personen einer mecklenburgischen Skandalgeschichte waren, die sich zwischen einem Carl von Maltzahn und einer Hofdame namens Auguste von Dewitz abgespielt hatte. Und der Oberst könnte, weil literaturkundig, gesagt haben: »Ist ja toll, Wuttke! Hab Ähnliches munkeln hören. Aber diese Ebba ist wohl ziemlich daneben, was? Vom Stamme Israel, wenn auch geadelt. Total unmöglich bei den Maltzahns. Muß reine Romanphantasie sein, verstanden!« Und der Soldat Wuttke wird »Jawoll, Herr Oberst!« gerufen und sich mit kleinem Sprung gerettet haben – wie er fünfzig Jahre später mit immer noch jünglingshaftem Sprung die Kabine betrat und Hoftaller mit sich zog; Aktuelles war zu verplaudern.
    »Macht mich traurig, Fonty, dieser Aktenverschleiß …« »Ging wohl schief in der Normannenstraße?«
»Und weil sich die Regierung Modrow nicht halten kann
    …«
»Sind etwa Vorgänge, die meine Familie betreffen,
    versiegelt worden? Oder hat man sie durch den Reißwolf …«
    »… soll es ne vorgezogne Wahl geben, schon Mitte März …« Dazu schwieg Fonty, der zwischen den Stockwerken Einblick in seine Last, den Stoß Aktenordner, gewährte. Aber Hoftaller, der nichts von Interesse fand und nur einen einzigen Vorgang zwischenlagerte, blieb auf Wendespur: »Hängt alles von Bonn ab. Haben es eilig, die Herren. Einheit sofort! Doch uns sind Wahlen egal, nicht wahr, Fonty? Wahlen ändern nichts, jedenfalls nicht im Prinzip. Wir bleiben so oder so im Gespräch …« Der Aktenbote Theo Wuttke verabschiedete sich mit kleinem Sprung. Was hätte er, der zu keiner Wahl ging, dem keine Wahl blieb, sagen können? Auf langem Korridor trug er den Stoß Ordner zu Diensträumen, aus denen er, beladen mit neuen Akten, wieder in Richtung Paternoster schritt. Im Haus der Ministerien war viel Personal aus Zeiten der nun zerfallenden Arbeiter- und Bauern-Macht beschäftigt, doch sah man auch Neulinge, die zwar dem mürben Staatswesen den letzten Stoß gegeben hatten, nun aber, im Umgang mit Akten, wenig Kenntnis bewiesen: Immer fanden sie, was sie nicht suchten – und umgekehrt. Wohl deshalb waren so viele Angestellte auf den Korridoren und zwischen den Stockwerken unterwegs. Mit Alteingesessenen und Neulingen teilte Fonty schwer beladen die Paternosterkabine, wenn nicht gerade Hoftaller den zweiten Platz beanspruchte. Seitdem das Haus der Ministerien zu einem hochgebirgsähnlichen Klettergelände umgedeutet wurde, sprach man jetzt häufig von Seilschaften, alten und neuen. Einige Herren und Damen der alten Seilschaften waren Fonty seit Jahren aus dienstlicher Tätigkeit bekannt, doch mit den Neuangestellten war er gleichfalls vertraut, sei es vom Prenzlauer Berg her, sei es von konspirativen Treffen in der Gethsemanekirche. Man nickte sich zu. Man hatte ein Wort füreinander. Man ahnte, was man nicht wußte. Und viele, die mit ihm im Paternoster auf und ab fuhren, nannten ihn

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