Ein weites Feld
angestammtes Theater, in dem er zwanzig Jahre lang als Kritiker den Eckplatz Nr. 23 besetzt gehalten und kaum eine Premiere versäumt hatte. Liest sich noch immer tintenfeucht, was über Schillers »Tell« und Ibsens »Nora« in der Vossischen Zeitung stand. Alles Bombastische war ihm zuwider, wie etwa Wagner und Bayreuth, wo er gleich nach Ende der »Parsifal«-Ouvertüre -»Noch drei Minuten und du fällst ohnmächtig oder tot vom Sitz« – die vollbesetzte Festspielscheune verließ und das teure Billett für »Tristan und Isolde« an der Theaterkasse zurückgab, verbunden mit der Bitte, den Gegenwert einer »frommen Stiftung« zugute kommen zu lassen. Desgleichen Fonty. Alles Überwürzte war nicht nach seinem Geschmack – wie jener Rotwein, den Hoftaller aus der Aktentasche gezogen hatte, ihm zu süß, zu klebrig war; und dennoch mußte er trinken, weil ihm »ein kurzes, aber gemütliches Beisammensein« verordnet blieb. Immer wieder goß Hoftaller nach. Immer wieder zitierte Fonty den berüchtigten Schierlingsbecher herbei. »Auf Ihr Wohl« mußte er sagen, »auf Ihr spezielles …« Und nach jedem Schluck befürchtete er, an Übersüße zu sterben. Das Sofa hatte schon viel aushalten müssen. Wahrscheinlich stand es seit Kriegszeiten im Keller. Während der häufigen Bombardierungen mochte es als Zuflucht gedient haben. Wir stellen uns vor, wie es, zwischen Luftalarm und Entwarnung, drei bis vier weiblichen Bürokräften, die im Reichsluftfahrtministerium angestellt waren, den Anschein von Sicherheit bot. Bestimmt war Fontys Verlobte, das Bürofräulein Emmi Hering, unter den Schutzsuchenden, zumal auf Berlin nachts wie am Tage Bomben fielen. Schon damals wird das Sofa zum Plaudern -und sei es über die Angst hinweg – eingeladen haben; und Emmi Wuttke, geborene Hering, soll von Anbeginn eine unerschöpfliche Plaudertasche gewesen sein; ihr riß der Faden nie ab. Nur so hat sie dem Gefreiten Wuttke gefallen können, nur so war sie, selbst bei übler Laune, zu ertragen; und nur so ist ihr, über Jahrzehnte hinweg, der Soldat und Zivilist erträglich gewesen, denn Fonty war das Plaudern, wie er sagte, »bis ins Schriftliche« zur zweiten Natur geworden. Sogar mit Hoftaller plauderte er aus Neigung, gewiß aber auch, um über die aufgenötigte Süße des Rotweins hinwegzukommen. Nur keine Pause zulassen. Mit vorletztem Wort das übernächste anstoßen. Indem er die Zeit immer wieder neu mischte, sprang er, ohne seine Sofaecke zu verlassen, aus dem einen ins andere Jahrhundert. Mehrmals wurde die Geburtsstadt Neuruppin berufen. Dem Apotheker unter den Vätern gab er nur wenige, doch dessen ewige Spielschulden mit Nachsicht wägende Worte. Dann war er mit Vater Wuttke, der das Steindruckerhandwerk gelernt hatte, ausschweifend lang bei den berühmten Neuruppiner Bilderbögen, deren farbig fortlaufende Schilderungen jegliches militärische Ereignis, zudem aktuelle Begebenheiten wie Großbrände und Sturmfluten über ein Jahrhundert lang populär gemacht hatten. Fonty beteuerte, wie dieser bunte Bildersegen die eine und die andere Jugendzeit bereichert, wie nachhaltig ihn der Steindruck geprägt habe. Er färbte einige Bilderbogengeschichten so bluttriefend und schießpulverschwarz ein, als stünde ihm des Försters Tod von Wilderers Hand noch immer vor Augen, als fände das Gemetzel von Mars-la-Tour gegenwärtig statt. Und während er noch Lithographien aus Gustav Kühns Werkstatt belebte, klagte er darüber, daß vom aktuellen Geschehen der Wendezeit nichts einprägsam anschaulich werden wolle: »Stellen Sie sich die Oktoberereignisse vor. Soeben noch feiert der Arbeiter- und Bauern-Staat sein vierzigjähriges Jubiläum. Großes Trara! Paradierende Volksarmee. Die werktätigen Massen ziehen an der Tribüne auf dem Marx-Engels-Platz vorbei. In bunter Folge sehen wir winkende Genossen, natürlich auch den mit dem Hütchen, wie er zurückwinkt: lächelnd nach Krankheit und Operation. Und neben unserem Honni sehen wir Gorbi, der nicht lächeln will. Warum nicht? Da kommt es schon in weiteren Bildern zu den Leipziger Ereignissen. Die Montagsumzüge. Die vielen friedfertigen Kerzen. Die Ordnungskräfte, die Hundestaffeln und alles wunderbar bildträchtig! Motive über Motive. Mit Beffchen und im Talar sehen wir hundert und mehr Pfarrer bildstrotzender Lutherworte mächtig. Den Pastor Christian Führer sehen wir, wie er von der Kanzel der Nikolaikirche herab in Gleichnissen Gewaltlosigkeit predigt. Wir sehen das
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