Ein weites Feld
nannte. Die Akten, mit denen Fonty im Untergeschoß aus dem Paternoster stieg, stammten aus den im Haus ansässigen Ministerien. Hinzu kamen ab Mitte Januar papierene Vorgänge, die seit der Versiegelung der Zentralstelle Normannenstraße neue Bleibe suchten. Nicht auszuschließen ist, daß photographische Ablichtungen von Akten, die für den Heizungskeller freigegeben waren, die »Entsorgung« überlebt haben. So viel Rückversicherung hätte Hoftallers Prinzip entsprochen: Stets hatte er etwas in der Hinterhand, nie hat er zu uns »Alles wurde vernichtet« gesagt, vielmehr immer wieder beteuert, daß »beinahe alles entsorgt« worden sei.
Fonty warf selten Blicke in die zu Heizmaterial abgewerteten Aktenstöße. Er wußte, warum das durch viele Risse und Löcher auslaufende Staatswesen sein Innenleben nicht den bereits anreisenden Konkursverwaltern zumuten wollte, zumal nach den Märzwahlen deutlich geworden war, daß zwischen Ostsee und Erzgebirge mit westlich geschulter Oberaufsicht gerechnet werden mußte.
Aber gelegentlich bestand Hoftaller auf Kenntnisnahme. Selbst flüchtige Einsicht bestätigte dem Aktenboten: Die zukünftige Ordnungsmacht hatte Grund, allen entsorgenden Fleiß zu begrüßen, denn der hinfällige Oststaat gab nicht nur über sich Auskunft; zusätzlich legte er ein weiteres, bis dahin verdecktes Innenleben frei, dessen verzweigte Wege und Abwege den Weststaat kenntlich machten. Das Gemenge einer gesamtdeutschen Aktenlage mußte einerseits getilgt, andererseits gesichert werden; Hoftaller sprach wiederholt vom »vorauseilenden Zugriff«. Uns gegenüber hat Fonty beteuert, ihm seien die Geheimhaltungsrituale beim Aktentausch lächerlich vorgekommen. In auf- und absteigenden Paternosterkabinen hätte sein Tagundnachtschatten im Schnellverfahren entschieden, welcher Vorgang als brisant, welcher als harmlos beurteilt werden müsse. Wir nehmen an, daß sich der Entsorger im Paternoster und vor offener Ofenklappe ziemlich wichtigtuerisch benommen hat, denn Fonty sagte später zu uns: »Als geeichte Archivare kennen Sie diesen Tick. Alles, selbst der kompletteste Unsinn war ihm bedeutsam. Sogar Quittungen über zwei Biere zu zweimal Bockwurst und lange Gesprächsprotokolle von Nichtigkeiten sammelte er, um sie zu vernichten oder für späteren Bedarf aufzubewahren.« In diesem Sinn hat Hoftaller uns gestanden: »Ach, haben Sie es doch gut! Nichts geht über ne stubenwarme Klause. Beneide Sie manchmal. Bin nämlich ganz närrisch nach alten Papieren, dürfen von mir aus stockfleckig sein.« Als beide wieder einmal vor der Ofenklappe der Notheizung standen und Hoftaller überschüssige Akten in Flammen aufgehen ließ, sagte Fonty: »Nur weil jetzt die Regierung Modrow wie weggeputzt ist? Was soll diese Posse! Ist ja lächerlicher als nach dem Sturz der Manteuffel-Regierung, als man versuchte, deren Pannen durch Aktenschwund zu löschen. Dabei pfiffen die Spatzen von den Dächern, wer an wen talerschwer Bestechungsgelder gezahlt hat. Selbst mir wollte man während meiner Londoner Jahre solche Peinlichkeiten zumuten … Sollte einen gewissen Glover schmieren … Graf Bernstorff drängte … Mein eigentlicher Vorgesetzter, Direktor Metzel … Saß im Café Divan, schrieb mir die Finger wund … Aber über derartigen Zahlungsverkehr wissen Sie mehr, als ich meinerzeit ahnen konnte …« Mit diesem Hakenschlag begann Fontys Rückzug in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: »En famille nach Kensington … Emilie über english people entrüstet … In der ›Times‹ eine Depesche: Hinkeldey im Duell erschossen …« Dem folgte ein längeres Gespräch, das vor offener Ofenklappe begonnen wurde, doch erst ein Ende fand, nachdem alle als »geheim« eingestuften Fundsachen verbrannt und, dank gutem Abzug, wie aus der Welt waren. Lange plauderten sie. Zuerst im Stehen, im Gehen dann, schließlich saßen beide.
Angenommen, das Sofa stand in einer Nische des Heizungskellers und hätte, weil es dort stand, zum Gespräch eingeladen, und weiterhin angenommen, der Aktenbote Wuttke war, nach beendetem Frühdienst, frei für ein nachmittägliches Geplauder und wäre, weil es draußen Bindfäden regnete, bereit gewesen, auf seinen gewohnten Tiergartenspaziergang zu verzichten, dann hätten beide eine Weile lang das preußische Polizeisystem aus unterschiedlichem Ärger beschimpfen können - Hoftaller nannte es »immer schon durchlässig, weil lückenhaft«, Fonty hatte es »allgegenwärtig« erlebt –, doch
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